Wer sich mit popmusikalischer Geschichte auseinandersetzt, wird zwangsläufig irgendwann auf folgende Aussage stoßen: "everyone who bought one of those 30,000 copies started a band." Gemeint ist natürlich das 1967 erschienene Debüt von Velvet Underground, das lange Jahre abseits des Radars dahin dümpelte, der Zitierte Brian Eno anno 1982. Zu diesem Zeitpunkt waren Album und Band, die nur drei Jahre und ebenso viele exzellente LPs später in sich zerfiel, längst Pionierstatus gewiss. Heute gilt die von Lou Reed geführte Band als eine der einflussreichsten aller Zeiten, alle vier in der Urbesetzung erschienen Alben als Klassiker. Einen weiteren Grund, den Amerikanern hier auf den Zahn zu fühlen: Die Debüt-Single von VU feierte dieses Jahr ihren 50. Geburtstag. Noch Fragen? Bitte erst im Kommentarbereich - oder gleich runterschlucken!
erstellt am: 26.11.2016
10.
All Tomorrow's Parties
The Velvet Underground & Nico
1967
... und da ist sie bereits, besagte Debüt-Single, die das Buffet eröffnen darf. Und was für eine. Die Bedeutung der deutschen Sängerin Christa Päffgen alias Nico für das Debüt The Velvet Underground & Nico ist nicht von der Hand zu weisen, von ihren drei exzellenten Lead-Vocals ist All Tomorrow’s Parties die ergreifendste. So großartig etwa Femme Fatale ist, so sehr stehlen diesem Nicos erhabener Gesang und allerhand produktionstechnischer Kniffe wie Reeds eigenartig gestimmte Gitarre oder das präparierte Klavier von John Cale die Show. Natürlich präsentieren wir an dieser Stelle lieber die sechsminütige LP-Version, auf der sich der pompöse Klang weit besser entfalten kann.
9.
Das große, nicht allerorts als solches anerkannte Hightlight der ersten LP-Seite von White Light/White Heat (die zweite nimmt Sister Ray komplett ein). Sterling Morrison spielt wie so oft den ungeliebten Bass, Maureen Tucker wie auf der ganzen ersten Hälfte des Albums Percussions. Bleiben noch Cale als Erzähler der Geschichte von Lady Godivas Lobotomie und Reed als verquerer Scherzbold. Ein seltsamer Track, getragen vor allem von der Rhythmusabteilung Tucker/Morrison, der einen wunderbaren Einblick in den morbiden Humor und das exzentrische Selbstverständnis seines genialischen Führungsduos gibt und dabei durchwegs zu brillieren weiß.
8.
Sunday Morning
The Velvet Undeground & Nico
1967
Einen Auftakt nach Maß, gleichermaßen eine Mogelpackung der besonderen Art legten die Amerikaner mit diesem glockenhellen
Opener der Debüt-LP hin. Verträumt, verschlafen, verhallt transzendiert Reeds lieblicher Gesang durch den Raum, immerzu begleitet von Tuckers unaufdringlichen Percussions und Cales Celesta. Die
Welt war plötzlich um die insgesamt wohl beste Band der zweiten Hälfte der 60er, die Band um ein erstes, unbeschwertes Pop-Gustostückerl reicher. Das offensichtliche Ziel, dem weniger
zugänglichen Material vom Rest des Debütalbums eine Nummer mit Hitpotential voranzustellen, wurde allerdings, aus heutiger Sicht wenig überraschend, kein bisschen erreicht.
7.
Mit Cales Ausstieg 1968 musste die Band plötzlich nicht nur ein riesiges Loch stopfen, dass der genialische Musiker hinterlassen hatte, sondern sah sich zudem noch mit der Situation konfrontiert, seine Marschroute weg vom avantgardistischen Art-Rock in Richtung konventionellerer Klänge wegorientieren zu wollen. Beides gelang überraschend gut. Mit Doug Yule an Bord vollzog VU einen riesigen Schritt in Richtung Pop, die beste Nummer der LP oblag aber wie so oft Reed himself. Sanft, unaufgeregt und mit etwas, das man mit dem exzentrischen Songwriter bis dato nur selten in Verbindung gebracht hatte: a whole lotta emotion.
6.
Seinen großen Triumph sollte besagter Yule erst ein Jahr später erleben, am Closer der letzten LP unter der Moniker Velvet Underground (bevor selbiger den Namen der Band in weiterer Folge mit banalen Solospinnereien ungestraft noch ein wenig besudeln durfte). Dabei ist Oh! Sweet Nuthin' mehr als der überwiegende Rest im Repertoire eine beeindruckende Teamleistung. Tucker gibt einen zurückgelehnten Drumbeat vor, eine Einladung, der Morrison am verhassten Bass gerne nachkommt. Reeds Gitarre fügt sich und Yules gefühlvoller Gesang setzt sich wie das letzte fehlende Puzzleteil ins Bild. Gegen Ende kulminiert das fröhliche Gedudel, ziehen Tucker und Reed das Tempo ordentlich an und sorgen dafür, dass der Abgang ein ganz und gar fulminanter wird.
5.
Heroin
The Velvet Underground & Nico
1967
Nicht selten als Reeds persönliches Magnum Opus beschrieben, ist dieser ergreifende, intime Koloss von einem Song selbstverständlich aus keinem ernstgemeinten VU-Ranking wegzudenken. Der Siebenminüter, der sich mit scheppernden Drums und sphärischen Gitarrenlicks immer wieder Tempi- und Lautstärkenerhöhungen hingibt, um beides kurz darauf wieder zu regulieren, ist nicht nur der beste Song, der je über die Droge geschrieben wurde, sondern vermutlich auch einer der einzigen, der sich so wertfrei, so neutral und alles andere als verurteilend dem Thema nähert, was wiederum viel zu seiner Mystik beiträgt. Cales Viola zetert und Reed schmettert die Zeilen "Ah, when the heroin is in my blood / And that blood is in my head / Then thank God that I'm as good as dead / Then thank your God that I'm not aware / And thank God that I just don't care / And I guess I just don't know" - lachend.
4.
Rock & Roll
Loaded
1970
Als die vierte LP Loaded im November 1970 veröffentlicht wurde, war Häuptling
Reed, seinem Unmut über die finale Abmischung dieser Luft machend, längst über alle Berge, das letzte famose Werk der Band wusste er dennoch unter seiner Führung, seinem Spiel und seinen
Weisheiten entscheidend zu prägen. Die Vorgabe der Plattenfirma war, ein Album “loaded with hits” aufzunehmen und Rock & Roll offenbart dahingehend
tatsächlich riesiges Potential. Die Band spielt einen lässigen, gleichermaßen mitreißenden Rhythmus, Reed quiekt und quäkt wie ein Schweinchen und Produktion offenbart zwar Finesse, fällt aber
nicht zu sauber aus - die Metamorphose vom besten Avantgarde-Pop seiner Zeit zu herrlich melodischem Gitarrenpop mit sanften Rockanklängen war perfekt.
3.
Venus in Furs
The Velvet Underground & Nico
1967
Hoffentlich einer der ersten Titel, die beim Namen der Band unmittelbar ins Hirn schießen. Grundsätzlich schienen die Amerikaner auf ihrem Debüt vor keinem thematischen Tabu halt machen zu wollen, diesem Stück, das von Sadomasochismus und anderen sexuellen Fetischen schildert, sollte allerdings ein ganz besonderer Status zukommen. Wie so oft sind es Cale an seiner Viola und Reed an seiner knarzigen Gitarre, die den Fokus auf sich ziehen, mit dem ebenfalls groß aufspielenden Anhang eine Stimmung heraufbeschwören, die an Unbehaglichkeit kaum zu übertreffen ist, während Zeilen aus Gold, Urin und shiny, shiny leather durch den Raum flattern.
2.
Sister Ray
White Light/White Heat
1968
Das Monster. Der wütende Orkan. Das siebzehneinhalbminütige Avantgarde-Sexfest. Wie sollte man diesen wütenden, improvisierten Jam, der tatsächlich in einem einzigen Take im Kasten war, denn auch sonst beschreiben? Cales verzerrte Orgel macht einen Riesenkrach, daneben beschreibt Reed eine Szene, die aus einem Pasolini-Film stammen könnte. Kurz gesagt: der ultimative VU-Song. So monoton das Geschrammel und die immer wiederkehrenden Textpassagen über eine florierende Orgie über die gesamte Spielzeit vielleicht anmuten mögen, so wenig kann man sich ihrem absorbierenden Sog entziehen - "it's just like sister Ray said..."
1.
The Black Angel's Death Song
The Velvet Underground & Nico
1967
Einer der weniger beachteten Songs und damit gemeinsam mit Lady Godiva's Operation vermutlich die streitbarste Nummer dieses Rankings ausgerechnet als persönliche Nummer eins. Dabei findet sich auf The Black Angel's Death Song alles, was The Velvet Underground und in erster Linie ihr Debütalbum für mich ausmachen. Kaum zu deutende Textzeilen, einen spielfreudigen Cale an seiner Viola und diese unbehagliche Atmosphäre, die man 1967 nur in Warhols Factory vorfinden konnte. Ach ja, der Legende nach soll es diese frühe Komposition gewesen sein, die überhaupt zum Treffen mit dem Popart-Maestro und VU-Mäzen geführt haben soll. Wie auch immer, die Velvets wären ob dieser vorzüglichen Wahl bestimmt stolz auf mich - und das ist doch alles was zählt.
Schlusswort:
Eine schwere Geburt, in der Tat! So klein der musikalische Output der großen Velvet Underground gemessen an ihrer kurzen Wirkungsdauer auch sein mag, so schmerzlich vermisst man, vermisse ich bei einer Begrenzung auf die zehn liebsten Stücke auch etliche andere. Etwa I’m Waiting For The Man, das den virtuosen Spielstil von Reed am besten offenlegt oder New Age, welches einem Doug Yules vielseitige Talente ein gutes Stück näherbringt oder beginnend mit dem Ausbund an popmusikalischer Coolness, Sweet Jane, nahezu jeder andere Track ihrer ersten vier Studioalben plus der Compilation VU, die Aufnahmen einer verworfenen, (planmäßig dritten) LP enthält.
Auch wenn The Velvet Underground längst ein gern gesehener Gast in Kritikerlisten dies und jenseits des großen Teiches sind, so fristen sie im popkulturellen Verhältnis nach wie vor ein Schattendasein. Diese Liste voller überwältigender Kompositionen soll zumindest jenem Anspruch gerecht werden, diese magische Band auch hierzulande ein wenig mehr in den Fokus zu rücken und vielleicht dem einen oder anderen Unwissenden Augen und Ohren zu öffnen - und sei es auch nur einer. Wie immer danke fürs Lesen; mit einem kleinen Klaps mit dem Latexhandschuh verneigt sich Euer untergebener Texter.
Mathias Haden, Velvet Hustler in Furs