Die Spanne an Reaktionen ist bei wenigen Musikveranstaltungen so gigantisch, wie sie jedes Jahr wieder beim Eurovision Song Contest zu sein scheint. Ok, offiziell mag ihn eigentlich eh niemand. Es schaut aber dann doch jedes Jahr eine gute dreistellige Millionenzahl an Menschen zu. Unabhängig davon ist die jüngere Geschichte des ehemaligen Gesangswettbewerbs eine großer musikgesellschaftlicher Missverständnisse. Weil ihm jeglicher künstlerische Wert abgesprochen wird, obwohl immer wieder großartige Künstler teilnehmen. Weil jede noch so denkwürdige Performance bloßes Gelächter erntet, da sie nicht dem Gusto des akustischen Connaisseurs entspricht. Und weil noch immer viel zu selten akzeptiert wird, dass diese Veranstaltung die drei Grundpfeiler der Musik vereint: Die künstlerische Entfaltung, die dumpfe Unterhaltung und die kanalisierte Geisteskrankheit. Wer nichts davon missen will, ist auch im angebrochenen Jahrtausend manches mal sehr glücklich geworden, wenn Stunden und Stunden die Interpreten aus ganz Europa sangen. Und es gibt ein paar Momente, zu denen sollte niemand Nein sagen. Twelve points go to...
erstellt am: 16.05.2017
10.
Weil Der Mensch Zählt
Alf Poier
2003 - Österreich
Also nicht an ihn. Aber ganz ehrlich, könnte die kanalisierte Geisteskrankheit einen besseren Proponenten finden? Alf Poiers
Gedankenwelt dürfte, von außen betrachtet, aussehen wie eine Mischung von "Drawn Together", einem Hieronymus-Bosch-Gemälde und dem Kreativunterricht eines Waldorf-Kindergartens. Was er damit
erreicht, ist sicher auch Kopfschütteln, allerdings anno dazumal auch den glorreichsten heimischen Auftritt beim Song Contest, der alles, was dieses Land in den letzten 20 Jahren entsandt hat, in
den Schatten stellt. Und das nicht nur, weil er das Level des liebenswert Bizarren erreicht, sondern vor allem, weil sein Gemisch aus karikiertem Weltretter-Kitsch, dem klassischen Kinderlied und
erratischem Glam Metal die bis heute gelungenste Persiflage der modernen Pop-Welt und des Song Contest selbst darstellt, die uns allen untergekommen ist. Die Basis dafür: Im Gegensatz
zu so vielen anderen, die sich an, neudeutsch geschrieben, Trollauftritten versucht haben, ignoriert Poier als beinahe einziger - Rambo Amadeus ist ihm 2012 gefolgt - jegliche Normen des Pop, des Glamour, des gemeinen Bühnenschauspiels. Die radikale
Kontradiktion alles musikalisch Breitenwirksamen.
9.
Madness Of Love
Raphael Gualazzi
2011 - Italien
Apropos Kontradiktion! Es folgt der umgehende Schwenk auf den künstlerisch wohl wertvollsten Beitrag, den der Song Contest
die längste Zeit erlebt hat. Als 2011 die Italiener nach langer Pause zum Bewerb zurückkehrten, war ein klangliches Upgrade ohnehin zu erwarten. Dort unten musiziert man gut. Dass man sich an das
ausgewiesene Pop-Fest, noch dazu zunehmend stromlinienförmig, mit einem imposanten Swing-Stück zurückmeldet, war dann doch fast zu viel des Starken. Gualazzi wirkt einschüchternd versiert,
verdammt Fehl am Platz eigentlich mit seinen fantasievollen Melodien, dem Piano-Solo und der fünfköpfigen Jazz-Begleitung. Und dann auch noch hauptsächlich auf Italienisch, wo doch längst
Englisch Amtssprache des Abends sein sollte. Diesen Stolpersteinen zum Trotz war es ein glorreiches Comeback, direkt auf Platz 2 und das höchstverdient, auch wenn man sich mit dem
Aufeinandertreffen seiner kernig-sanften Stimme und der großspurigen Aura der Song-Contest-Bühne nie so ganz anfreunden kann.
8.
Hold On Be Strong
Maria
2008 - Norwegen
Die Norweger dürften diesen Bewerb verdammt ernst nehmen. Zumindest ist die Fülle an starken Beiträgen aus dem
Wikinger-Ländle ohne sonderlich viel Konkurrenz, sodass sogar dem fidelnden Alexander Rybak noch relative Güte zugestanden werden kann. Besser war aber trotzdem Maria, diesmal nicht Mutter des Heilands, sondern
Haukaas Storeng. Die hat konträr zum visuellen Ersteindruck mit einem Motown-infizierten Bluessong für einen äußerst traditionellen Moment gesorgt. Gesanglich feinstens, ganz leicht rauchig
und eher so, wie man es aus New Orleans erwarten würde. Musikalisch dagegen erfrischend dezent, mit direktem Draht zu Amy Winehouse, ohne dabei in deren egozentrische Melancholie zu
verfallen. Stattdessen wird es eine für das R&B-Genre typische Kombination aus Liebeskummer und emotionalem Empowerment, die aber eher durch die ideale musikalische Abstimmung zwischen Musik,
Sängerin und ihrer Backgroundbegleitung besticht als mit Text oder Choreographie.
7.
Molitva
Marija Šerifović
2007 - Serbien
Letzteres hatte sie schon gar nicht nötig. Der einzige Grund, warum Marija Šerifovićs Auftritt nicht als ultra-minimalistisch gelten kann, ist der, dass wenig später eine gewisse Nadine Beiler festgewurzelt an ihrem Platz gestanden und stimmlich alle umgehaut hat. Soweit die Gemeinsamkeiten. Šerifović, so nebenbei die qualitativ beste Siegerin des neuen Jahrtausends und auf weiter Flur die einzige, die ohne Englisch gewinnen konnte, hat aber zusätzlich noch die emotionale Ausdrucksstärke, um mit ihren Kolleginnen einen erinnerungswürdigen Auftritt hinzulegen. Was sich selbst im ersten Refrain nur zu einer eher gewohnten Streicherballade steigert, wird nach der starken Instrumentalbridge zum mächtigen mehrstimmigen Finale, in dem sich nicht nur gesanglich alles entlädt, sondern plötzlich auch Symphonic Rock im Hintergrund aufwallt. Stimmiger ist schwierig, eine bessere Powerballade hinzuknallen genauso. Ein vom Song Contest malträtiertes, bis zum Exzess durchgekautes Genre eigentlich, immer wieder positiv zur Geltung gebracht, aber nur in diesem Fall so wirklich wiederbelebt.
6.
Dancing Lasha Tumbai
Verka Serduchka
2007 - Ukraine
Wer geglaubt hat, es bliebe beim Alf, kennt mich schlecht. 2007 erlebte das unter Garantie gegensätzlichste Duell um den Sieg aller Zeiten. Hier der Balladentraum, dort die infinite Schräglage eines ukrainischen Techno-Hammers, der allein durch die jenseitige Präsentation alle Sympathien auf seiner Seite hat. Lange, bevor Conchita die Welt an die Schwäche aller Bond-Themes erinnert hat, war es Verka Serduchka, die ein anders geartetes Zeichen für Offenheit setzte. Sie war nur Drag Queen, aber selbst das war und ist im post-kommunistischen, nationalistischen Osten Europas Statement genug, abgesehen von der viel wichtigeren Tatsache, dass dieser Song einfach genial schwachsinnig ist. Wer mit "Hello everybody! My name is Verka Serduchka. Me English nix verstehen. Let's speak Dance!" beginnt, kann vor allem in diesem Aufzug nicht mehr scheitern. Ob man die folgenden drei Minuten souverän nennen kann, sei aufgrund der relativen Freiheit von Harmonie und Sinn dahingestellt. Ein Spektakel, das an Kurzweil nicht zu überbieten ist, bleibt es allerdings.
5.
Sound Of Silence
Dami Im
2016 - Australien
Zurück in der Luzidität bleibt einem der Blick auf das letzte Jahr und ein gesangliches Meisterstück. Leider überschattet von einem Schwall an unnötiger und unfundierter Kritik an der "geschobenen" Siegerin Jamala, fand das Debüt des eher uneuropäischen Australien beim Song Contest statt. Überrascht hat es wohl niemanden, dass ausgerechnet von dort der wertvollste Beitrag kommt, den man an diesem Abend zu hören bekam. Dami Im versuchte, sich als stärkste Casting-Show-Gewinnerin aller Zeiten zu präsentieren und mit ihrem emotional unterkühlten, stimmlich aber schlicht gloriosen R&B-Dance-Pop dürfte das gelungen sein. Nur knapp war es Platz 2, in einem reichlich ungewöhnlichen Finale, in dem die zweitplatzierte der Jury- und Publikumsvotings letztlich gesiegt hat. Das war nicht die Dame aus Down Under. Die hat dafür für ein Feuerwerk ohne Feuerwerk gesorgt, das nur kommerziell zu wenig wertgeschätzt wurde.
4.
Party For Everybody
Buranovskiye Babushki
2012 - Russland
Das hier ist der Grund, warum der Song Contest auf seine Art großartig ist! Ich schau ihn ja auch ewig nicht mehr, aber das
sind Minuten, die sich für Jahrzehnte einbrennen und die durch ihre unschuldige Art der beste Hinweis auf die Prämissen des modernen Song Contest von Offenheit und Vielfalt sind. Die
unüberhörbare musikalische Wertlosigkeit, abgesehen von einer gewissen Ohrwurmqualität, ist dabei nicht einmal mehr Nebensache. Gerade die wenig humorigen Russen haben sechs verdammt alte
Semester aus dem tiefsten Ural ausgeschickt, um Europa zu erobern. Gelungen ist es dem ganz anderen Damenchor mit einem Durchschnittsalter von knackigen 80+ im Handumdrehen. Natürlich kann das
daran liegen, dass die Lächerlichkeit nicht weit weg ist. Realistischer: Die nicht zu verkennende Freude lebenslustiger Pensionistinnen, wenn sie übers ganze Gesicht strahlend in
volkstümlichen Kostümen über die Bühne tanzen, so sehr es ihre Beine noch hergeben. Wenn das nicht der genialste Tag in deren Leben war, ich weiß auch nicht. Außerdem sind die liebenswerter
als jedes verdammte Katzenbaby. So!
3.
Die großen Drei und damit der Abschied von kunstfernen Minuten. Stattdessen tatsächlich musikalisch Wertvolles. Und das Podium hätte auch ganz anders ausschauen können, wären die Kriterien andere gewesen. Ginge es nach den Studioversionen, Francesco Gabbani - dessen Song übrigens Stein des Anstoßes für diese Liste war - hätte Platz 1. Selbst mit der Semifinal-Performance hätte es noch gereicht. Doch das Finale war plötzlich mit minimalen Fehlern behaftet. Die Mikros latent zu leise, die Background-Sänger außer Form, der Maestro im Rampenlicht zumindest bei der Rückkehr aus der Bridge nicht mehr ganz in Kontrolle seiner Stimme. Trotzdem: Eine lebhaftere und energiegeladenere Darbietung findet man beim Song Contest nicht, wenn man gleichzeitig noch um eine mächtige Hook, starke Stimmbänder und intelligenten Inhalt bittet. Sich das Musikvideo inklusive englischer Untertitel anzuschauen, ist übrigens Pflicht. Gabbani hat auf alle Fälle alles, was ein Sieger und ewiger Favorit braucht, auch wenn er es nicht ideal auf die Bühne gebracht hat. Irgendwann musste sich das Äffchen einfach rächen, sowas bringt jeden aus dem Konzept.
2.
Silent Storm
Carl Espen
2014 - Norwegen
Wir betreten konträres Terrain und damit das Feld einer außergewöhnlich starken Ballade. Etwas überraschend nicht von einer Dame gesungen. Carl Espens Stimme sticht allerdings auch beinahe alles aus, insbesondere wenn sich das Drumherum auf stimmungsvolle Klavierakkorde und dezente Streicher beschränkt. Von denen ist, DANKE!, weniger zu hören, sie komplimentieren nur, wie überhaupt die Bühne einzig und allein der beeindruckenden Stimmgewalt Espens gehört, die sich im Klimax so weit steigert, dass Gänsehaut schwer abzuwenden ist. Der Dreh- und Angelpunkt ist allerdings nicht der technische Aspekt. Silent Storm ist der gefühlvollste Moment des Song Contest, tragisch und zerbrechlich, mit im Bewerb kaum einmal gehörter Poesie und Zurückhaltung getextet. Womöglich das vollendetste Gesamtpaket im Feld und für den, dem die Zeilen entsprechen, nicht zu verbessern.
1.
Rändajad
Urban Symphony
2009 - Estland
Estland wäre jetzt niemandes Siegertipp gewesen, nehme ich ganz schwer an. Aber das ist schon die allerfeinste Klinge. Und auf Platz 1 übrigens deswegen, weil sie einen Anti-Gabbani gemacht haben und live tatsächlich noch einmal fesselnder geworden sind als im Studio. Mit einer Engelsstimme an der Front - Erinnerungen an diese isländische Maid werden wach, wie heißt sie noch gleich? -, entfaltet sich ein beeindruckendes Schauspiel, gemischt aus drohend schweren Streichern und einem perfekt eingesetzten elektronischen Beat, dessen Kälte die gleichermaßen gespenstisch-eisige wie märchenhafte Aura des Songs nur noch verstärkt. Ein cineastischer Moment, wie ihn der Song Contest relativ oft angeblich erlebt, in Wahrheit aber nie geboten hat. Nebenbei klangliche Perfektion in einer Sprache, die ähnlich abgehackt daherkommt wie die unsrige, sich im musikalischen Kontext aber schlicht ideal einfügt. Dieses eine Mal sei vielleicht, als Eingeständnis an die Oberflächlichkeit des Bewerbs, angefügt: Diese Frau ist auch eine unverschämte Schönheit.
Schlusswort:
18 verdammte Song Contests in drei aufeinanderfolgenden Tagen! Über 700 Songs! Man wird schon ein bisschen gaga dabei, vor allem, weil wenig bei diesem aufgeblasenen Festl so viel hergibt wie diese zehn auserwählten Stücke. Allfälliger Kritik an den musikalisch kaum ernstzunehmenden Vertretern in der Liste sei noch einmal entgegnet, es geht nicht immer um die Musikalität. Im Gegenteil, wer den Song Contest einfangen will, muss sich auch und gerade diesen Liedern widmen und auch eine Schwachstelle für die Verka Serduchkas dieser Welt mitbringen. Trotzdem sei gesagt, die musikalische Vielfalt des Wettbewerbs ist nicht zu leugnen und wenn auch Klogriffe, vor allem aber schlichte Fadesse die große Mehrheit ausmacht, wären noch genug starke Minuten Schlange gestanden, um die Top 10 auszufüllen. Vom ungarischen Trip-Hop-R&B über israelisches Weltuntergangs-Allerlei bis zur türkischen Beatkanonade und der geschassten ukrainischen Siegerin des letzten Jahres, die ihr ganzes Herz rausgesungen hat.
Sollte ich trotz aller Ausdauer einen legendären Happen vergessen haben, bitte gerne darauf hinweisen. Übrigens wäre das auch die Gelegenheit, dem so verwaisten Kommentarbereich wieder Leben einzuhauchen. Wenn schon für sonst nix, dann für die obergscheiten Schreiberlinge hier. Und fürn Alf!
Kristoffer Leitgeb, kanalisierte Geisteskrankheit, nur anders