Besser spät als nie! Weil im Januar der Unistress drückte und der Kollege so freundlich war, mit einer Hommage an die berühmteste Grunge-Band der Welt oder gar aus Seattle auszuhelfen, gibt es erst jetzt den zwingend notwendigen Rückblick auf das vergangene Jahr. Eines, das neben einem ermüdenden Wahlkampf in Österreich, dem neuen Anti-Helden der Vereinigten Staaten und massenhaft Panik hier wie dort auch noch haufenweise exzellenter Alben zutage förderte. In meiner Mission, die schönsten LPs von 2016 zu archivieren, selektieren und präsentieren, bin ich dieses Mal zwar allein unterwegs - dies soll die Freude aber nicht trüben. Die fliegenden Stühle aus dem Vorjahr gab's dementsprechend nicht, dafür Einigkeit und Harmonie in Zeiten der drohenden Apokalypse. Viel Spaß mit meinen zehn liebsten Alben aus dem Vorjahr!
erstellt am: 22.03.2017
10.
Honest Life
Courtney Marie Andrews
Auch vergangenes Jahr kam das beste Country-Album nicht aus der berüchtigten Redneck-Hochburg Nashville. Courtney Marie Andrews, selbst aus Phoenix, Arizona, nahm ihr viertes Album in Seattle auf. Da wundert es nicht, dass wie schon Barna Howards sophomores Album von der letzten Top 10 auch Honest Life luftige Arrangements mit ausgeprägter Folk-Affinität auszeichnen. Keine spießigen Allüren, kein garstiges Geheul, lediglich zehn Geschichten aus dem Leben einer hervorragenden Singer-Songwriterin. Wer entspannten und klischeefreien Country sucht, der wird bei Andrews garantiert fündig - und darf den Namen gerne all seinen Freunden weiterempfehlen.
Überragender Track: How Quickly Your Heart Mends
9.
Evening Souvenirs
The Yearning
Herrlich aus der Zeit gefallen, sofern man das bei den zahlreichen Strömungen und Re-Revivals jedes Jahr überhaupt sagen kann. The Yearning, bitte nicht zu verwechseln mit den finnischen Metal-Heads, vereinen hier sanften Chamber-Pop mit Folk, Bossanova und Anleihen aus Soul und französischer Popmusik der 60er und 70er und stellten damit das wohl vielseitigste UK-Ensemble des vergangenen Annus. Obwohl Sängerin Maddie Dobie zwischendurch etwas lispelt, ist die junge Frau (immerhin 15 Jahre am Debüt von 2012) neben den majestätischen Arrangements von Mastermind Joe Moore und dem virtuosen Zusammenspiel der Gruppe der große Trumpf der Briten. Music for the small wee hours...
Überragender Track: When I Lost You
8.
Here
Alicia Keys
Dass die US-Amerikanerin hier mit Album #6 ihr bestes Werk aus dem Hut zaubert, hätte man - vor allem nach dem eher spröden Vorgänger - nicht erwarten können. Auf Here will Keys endlich zeigen, wer sie wirklich ist. Das beginnt bei dem im wahrsten Sinne des Wortes unfrisierten Artwork, reicht von den präsenten Hip Hop-Einflüssen und der exzellenten Produktion, an der die Sängerin maßgeblich beteiligt war, bis zu den Songs selbst, in denen sie ihre vielförmigen Erfahrungen und ein augenscheinliches Interesse an Gospel, Rap, Jazz und Soul verarbeitet. Um am Ende zu einem Fazit zu kommen, das die Abgründe unserer Gesellschaft wieder einmal vor Augen führt: "If war is holy and sex is obscene / Then we got it twisted in this lucid dream".
Überragender Track: She Don't Really Care / 1 Luv
7.
Lodestar
Shirley Collins
Mit 81 ein Comeback nach achtunddreißig Jahren zu feiern, ist eine Sache. Das dann aber auch noch zum großen Triumphzug ausufern zu lassen, das obliegt freilich nur den ganz Großen. Shirley Collins ist so eine. Ihrem Gesang merkt man das Alter selbstverständlich an, doch hat die erhabene Weisheit, die den Worten der zweitschönsten britischen Folk-Stimme (Sandy Denny unerreicht) seit jeher wie ein Schatten anhaftet, nur weiter an Ausdruckskraft gewonnen. Die wahre Magie liegt aber in den spartanisch instrumentierten Arrangements, denen die aus unterschiedlichen Jahrhunderten stammenden Songs fürstlichen Glanz, gleichzeitig aber auch eine unheilvoll morbide Note zu verdanken haben.
Überragender Track: The Rich Irish Lady/Jeff Sturgeon
6.
Ashley Shadow
Ashley Shadow
Wieder so eine nebulöse Songwriterin, die der überwiegenden Mehrheit der Öffentlichkeit nicht einmal namentlich bekannt sein dürfte. Dabei zählt Ashley Shadow Webber fast schon zu den alten Hasen, spielte in diversen Bands und war auch auf den Platten so mancher Indie-Berühmtheit wie Bonnie Prince Billy zu hören. Trotzdem dauerte es bis 2016, ehe die in Vancouver geborene Künstlerin ihre erste LP im Kasten hatte. Begleitet von einer kleinen Gruppe an fähigen Musikern, entstanden so immerhin die schönsten zurückhaltenden Minuten, die sich im vergangenen Jahr in der Nische zwischen Folk, Indie-Rock und schwelgerisch eleganten Dream-Pop-Melodien finden ließen. More music for the small wee hours...
Überragender Track: Way It Should
5.
Sein Tod war ein schwerer Schlag für viele, so auch für mich. Was der facettenreichste Pop-Entertainer des 20. Jahrhunderts so gut wie möglich vor der Öffentlichkeit geheim gehalten hatte, wurde erst Anfang des Jahres mit seinem Abschiedswerk und den kurz davor erschienenen Musikvideos ersichtlich. So viele Kämpfe er während seines Lebens auch gewonnen hatte, dem Leberkrebs musste er sich schließlich geschlagen geben. Die sieben Tracks, die den düsteren Blackstar schmücken, haben es dafür in sich. Neben den beim zweiten Hinhören und nach dem Vernehmen der traurigen Nachricht gar nicht mehr subtilen Andeutungen, begeistert die finale LP mit seiner unterkühlten Atmosphäre und dezenten Jazz-Anleihen. Auch wenn es letztlich mehr Respekt, denn Euphorie ist.
Überragender Track: Lazarus
4.
Golden Sings That Have Been Sung
Ryley Walker
Neben Vorjahressieger Kendrick Lamar der einzige, der aus der letzten Bestenliste auch 2016 ein Album in die Läden brachte: Gitarrenvirtuose Ryley Walker. Und was für eins. Verlor sich Vorgänger Primrose Green teilweise noch in ausartenden Jams, ist dies hier endlich der tighte Folk-Rock-Kapazunder, den man sich vom Singer-Songwriter aus Illinois seit seinem Debüt, das seinerseits ja auch erst 2014 erschien, schon immer gewünscht hatte. Weniger spontan und dementsprechend unberechenbar zwar, dafür voller magischer Melodien, perfekt austarierter Arrangements und einem auch als Sänger besser werdenden Protagonisten. Eine Steigerung auf vielen Ebenen ergo, die mit Sullen Mind die gesamte Kunst Walkers auf sechseinhalb Minuten einfängt.
Überragender Track: Sullen Mind
3.
Atrocity Exhibition
Danny Brown
Dass Hip Hop mitnichten im Sterben liegt, beweist nach Lamars Erfolg der nächste brennheiße MC aus den Staaten. Auf seinem vierten, nach dem Joy Division-Klassiker benannten Longplayer vereint Brown einige der besten Beats der letzten Jahre, jongliert mit Samples aus allen erdenklichen Himmelsrichtungen und steigert sich zwischen erdrückenden Elektronikwänden in eine einschüchternde Rage zwischen hyperventilierender Wortgewandtheit und verstörendem Psychogelaber. Erneut auf seinen britischen Kumpel Paul White als Hauptproduzenten zu setzen, hat sich jedenfalls gelohnt. Dessen mächtige Soundgebilde sind es, die in Kombination mit Browns eigenwilliger Performance dafür sorgen, dass Letzterer eine der großen Hoffnungen des Genres bleibt - auch wenn sich gern weit mehr Abnehmer für seine fordernden Platten finden könnten, als es bislang der Fall ist.
Überragender Track: Ain't It Funny
2.
Von mir im entsprechenden Review guten Gewissens als First Lady of Pop bezeichnet, führt im öffentlichen Raum aktuell tatsächlich kein Weg vorbei an der vielleicht schillerndsten Figur der 10er-Jahre. Obwohl Lemonade noch nicht einmal das beste Album im eigenen Repertoire stellt, demonstriert es die bemerkenswerten Ambitionen und die sprudelnde Spielfreude von Beyoncé Knowles. Dort wo es gelingt, verhältnismäßig konventionelle R&B-Midtempo-Balladen mit futuristischen Elektronik-Vibes, Hip Hop-Beats, countryeskem Folk-Pop und einem kleinen Blues mit Jack White samt Led Zeppelin-Sample so zusammenzuführen, dass es nicht - Vorsicht! - prätentiös klingt, ja, dort sind Könige daheim. Oder eben Königinnen. Nicht war, Queen Bey?
Überragender Track: Sorry
1.
Am Vormittag des 2. September 2016 war bereits klar, wer in einer potentiellen Jahresbestenliste von der Spitze lachen würde. Geschobene Partie? Vielleicht. Man muss aber kein bekennender Fan wie ich sein, um hinter Olsens intelligentem Konglomerat aus betörendem Gejammer, nicht mehr ganz so röhrenden Gitarren und den besten introspektiven, mit gelegentlich aufblitzendem Sarkasmus angereicherten Texten weit und breit einen göttlichen Plan erkennen zu können. Aufgeteilt auf eine LP-Seite dynamischer Rocker und eine mit ruhigeren, in ihren offeneren Strukturen und einer ätherisch schwelenden Transzendenz leichtfüßig und doch nicht annähernd unbeschwert durch Raum und Zeit gleitend, zelebriert die Singer-Songwriterin ihre hohe Kunst der in passende Songformen gegossenen Emotionen via engelsgleichem Gesang. Die logische Folge? Platz 1 und damit nach 2012 und 2014 die dritte Goldmedaille. Kein Mensch verdient es mehr. Kein anderer Mensch schreibt heute aber auch den perfekten Song. Da unten kann man einen genießen.
Überragender Track: Sister
Schlusswort:
Nachdem wir uns mittlerweile bereits offiziell im Frühling befinden, sind die Erinnerungen an das letzte Jahr naturgemäß verblasst und im Hinterstübchen irgendwo zwischen denen von 1982 und 2008 zu finden. Trotzdem lohnt es sich auch diesmal, sich im Nachhinein durch die essenziellen Veröffentlichungen von 2016 zu kämpfen und dabei Hip-Hop auf einem kreativen Höhepunkt oder zahlreiche talentiere Singer-Songwriter-Novizen zu entdecken, die in den folgenden Jahren für Furore sorgen könnten. Die Leider-Neins decken die stilistische Vielfalt ebenso ab, die das Jahr ausmachte. Von Kanye Wests musikalisch hervorragendem The Life Of Pablo, von dem man aber nicht einmal weiß, ob man nun die finale Fassung hört, bis hin zu Marissa Nadlers zauberhafter LP und dem spielfreudigen Comeback der Rolling Stones. Und auch Beyoncé hat jetzt eine neue Konkurrentin - aus der eigenen Familie sogar! Wie auch immer, 2016 hatte es wie schon 2015 richtig in sich und es bleibt nur zu hoffen, dass dieser Lauf fortgesetzt wird. Danke fürs Lesen!
Mathias Haden