Faszinierende Horror-Fantasien eines Logikers auf dem harten Boden präpotenter Realität.
Es drängt sich hin und wieder auf, einen Blick darauf zu werfen, wo sich denn der eigene Charakter in von einem für gut befundener Musik wiederfindet. Immerhin resoniert da ja etwas und Resonanz gibt's nur, wenn sich die Wellenlängen gleichen. Ein klein wenig zumindest, im hintersten Kämmerchen des Großhirnlappens Nummer 12A - wer nicht weiß, wo der ist, keine Sorge, vernachlässigbares Teil. Vielleicht machen sowas aber auch nur die hemmungslosen Analytiker, ich also mittendrin statt nur dabei. Wo Tool und El Kris aufeinandertreffen, hält vielleicht schon die Headline fest. Präpotenter Logiker? Klingt bekannt. Außerdem weiß bei mir auch oft keiner, was meine Ergüsse eigentlich bedeuten sollen. Auf sowas ließe sich aufbauen und trotzdem ist die Anerkennung einer Band wie Tool, einer LP wie "Lateralus" fast immer eine, die von kühler Distanz lebt. Ähnlich wie die LP und ihr Konzept höchstselbst.
Was wiederum eine Fehlinterpretation sein könnte. Aber Tool wurden nicht umsonst bereits das Pink Floyd des Metal genannt. Das ist zwar nicht nur wegen kreativer Überschneidungen der Fall, eher sogar wegen frontmännischer exzentrischer Überheblichkeit und einem Hang zur gekünstelten Kunst. Das ist allerdings Stichwort genug, um zu einer bedeutenden Facette des Albums zu kommen. Denn irgendwie ist "Lateralus" immer surreal, eine düstere Übersteigerung allein deswegen, weil solch ein Detailreichtum und solch eine bisweilen bedenklich anmutende, kalkulierende Präzision selbst die filigransten Michelangelo-Nacheiferer in den Schatten stellt. Dass man ausgerechnet das Metrum-Monstrum Lateralus zum Titeltrack auserkoren hat, bedeutet also möglicherweise ein bisschen etwas. Der Track wandelt durch die unkonventionellsten Signaturen, ellenlang wie viele andere Tracks, aber hypnotisierend und herausfordernd genug, um sich auf eindrucksvolle Art einzubrennen. Falsches Wort! Die LP ist als großes Ganzes manche Erinnerung wert, die einzelnen Songs aber abstrakte Mosaike, die kaum einen Eindruck lang genug bestehen lassen, um wirklich nachzuhallen. Da kann auch die Suche nach der einzig wahren Wahrheit im Titeltrack nicht viel dagegen tun, außer mit der im Kontext genial skurrilen Zeile "Overthinking, overanalyzing separates the body from the mind" anzutanzen.
Dass die Band um Leithammel Maynard James Keenan mit dem Zerdenken und Analysieren auf Du und Du ist, liegt nahe. Ergo sind schwer in Worte zu fassende Minuten wie Ticks & Leeches, dieses Gemisch aus sich überschlagendem Metal-Terror und schwelend-dystopischer Tristesse, ganz gut, um Körper und Geist zu trennen. Ein Traum für alle selbsternannten Gegner der Psychosomatik - katching -, ein bisschen eine Challenge für den Rest der Welt. Aber eine sehr lohnende, nimmt man sich dem verhältnismäßig straighten Schism oder der finalisierten Hoffnungslosigkeit von The Patient an. Da wird dann klar, dass das Quartett ein schwer zu verdauendes, aber verdammt beschlagenes Amalgam aus pedantischen Edeltechnikern ist. Bei aller überbordender Komplexität um der Komplexität Willen bleibt überraschend viel gerade dank dieser musikalischen Finesse einer grundlegenden Geradlinigkeit verpflichtet. Ohne sowas wäre man auch verloren. Denn selbst Danny Carey faszinierende Drum-Exzesse sind mitunter so verschlungen und erratisch, dass man nur mehr bedingt Schritt hält mit seinen Rhythmus- und Lautstärke-Wechseln.
Um nun das Fasziniertsein nicht zu übertreiben, Tool sind nicht gar so übermenschlich, wie es der Review bisher vielleicht vermittelt. Aber irgendwie auf unsympathische Art cool. Vom ersten Moment an mit der Fähigkeit ausgestattet, einen zu vereinnahmen und einen hineinzuziehen in diesen düsteren Vortex semipsychedelischer Fantastereien. Vielleicht hat das damit zu tun, dass die High-Precision-Produktion jedes Körnchen Musik so penibel nachschärft, dass man sich in den Riffs, Basslines und im Getrommel verlieren kann. Als Analytiker genauso wie als sinkender Stein. Ist man letzteres, erreicht man den Tiefpunkt zwar früh mit The Patient und dessen untypisch simplem Intro Eon Blue Apocalypse, das allein schon für massig Stimmung sorgt, man kommt aber wenigstens mit Schism, Parabola oder Ticks & Leeches auch nicht mehr raus von da unten.
Ruhiger könnte alles sein, möchte man mitunter meinen. Denn der eindringliche Song-Prolog Parabol sticht beinahe schon das rifflastige Hauptwerk Parabola aus, obwohl nicht viel mehr als karge Zupfer und allein gelassener Pressgesang dominieren. Die Reduktion hilft allerdings gewaltig, genauso wie die leichten Grunge-Erinnerungen des Openers The Grudge ein starker Illustrator des Unterschieds zwischen lauten und ruhigeren Passagen sind. Nicht nur die Feinheiten, auch die dezent verstörende Atmosphäre gehen in letzteren eher auf.
Das wäre ein Plädoyer für eine ruhige Tool-LP, gäbe es nicht eine zweite Hälfte, die die Ausdauer des Hörers etwas überstrapaziert und gerade in der fehlenden Härte einen negativen Knackpunkt findet. Disposition und Reflection begehen aber auch den Fehler, orientalisch angehauchte Rhythmen und Percussions ins Rampenlicht zu stellen. Das ist gleichermaßen monoton wie unpassend und zehrt insbesondere beim elfminütigen Reflection extremst an den Nerven. Überhaupt bekommt die Band im letzten Drittel recht wenig wirklich hin. Ja, die Fertigkeiten aller sind noch herauszuhören, doch die letzte Härteeinlage, Triad, klingt nicht einmal annähernd so frisch und ideenreich, wie es ein Abschluss für diese LP sein sollte. Wenigstens ist es nicht der Abschluss, es wartet ja noch das grässliche Faaip De Oiad, zu Deutsch: Die Stimme Gottes, und damit ein elektronisches Machwerk, das einen Hauch von Outsider-Art in eine trübsinnige Noise-Collage hineinbringt. Zyniker könnten meinen, bei dem Titel wäre das fundamentale Religionskritik.
Ansonsten ist man wohl im Einklang mit sich und der Welt, sofern der nach einem zerklüfteten, Lebensfreude verschlingenden Dystopia klingt. Kann sein. Näher liegt allerdings die Interpretation, dass "Lateralus" manch einen Abgrund des eigenen Seelenlebens gespenstisch nachvollziehbar in Musik umwandelt. Das Album ist alles von chaotisch bis lebensmüde, ekstatisch bis zynisch, vor Kraft strotzend bis zerbrechlich. Nicht alles davon vollends überzeugend, aber in den eigenwilligen Bauwerken, die die Band Songs nennt, ist genug Raum für unterschiedliche Beschäftigungen, um einem das zu bescheren, was nicht gar so viele Alben können: Eine Erfahrung. Großspuriger Begriff, aber das dritte von bisher nur vier Tool-Alben prägt sich irgendwie ein, sicher nicht als perfektes Machwerk, aber vielleicht perfekte Umsetzung eines sehr schwierigen Plans von sehr schwierigen Menschen. Womit wir wieder beim präpotenten Logiker an der Tastatur wären.