von Kristoffer Leitgeb, 30.06.2017
Und Jamie sprach: Es werde lebendig! Und es ward lebendig.
Wenn das Ziel eines Menschen konstante Verbesserung ist, dann tut er gut daran, sich möglichst langsam zu verbessern. Dieser Sinnspruch mag weniger motivierend sein, aber er genügt immerhin den Ansprüchen der Logik. Ist eben leichter, hier mal ein Stückerl, dort eine Spur besser zu werden, anstatt auf ein Mal einen riesigen Sprung zu machen, damit man danach daran zerbricht. Es ist außerdem auch im höchsten Maße berechnend, anspruchs- und doch ziellos. Außer man glaubt an diesen anderen Sinnspruch, der den Weg zum Ziel erklärt. Bei dem britischen Indie-Triumvirat, das sich selbst den alles andere als deskriptiven Namen The xx verliehen hat, ist nicht genau zu sagen, ob die ihre relative musikalische Starre bewusst oder aus schlichter kreativer Not praktiziert haben. Auf alle Fälle war Album #2 quasi Album #1, nur mit weniger Leben und Frohsinn, dafür letal inaktiver Sehnsucht. Umso leichter also, sich von dem zu trennen und die Pforten zu öffnen für die Vorzüge eines elektronisch Geschulten.
Jamie xx hat ja in Wirklichkeit den Beweis angetreten, dass seine zwei Bandkollegen für ihn schon auch irgendwie so etwas wie Ballast sein könnten, anstatt ihm wirklich Auftrieb zu geben. Ein Soloalbum und gleich der Grammy. Nicht nur das, da hörte man auch vielfältige Ideen, wo auf "Coexist" vor allem der Versuch intonierter Stille vorherrschendes Merkmal war. Was wiederum emotionalen Tiefgang bedeutet hätte, wenn die beiden Sangespartner, davon insbesondere Oliver Sim, auch Stimmen hätten, deren Fähigkeiten weit genug reichten, um damit wirklich spürbare Gefühle zu vermitteln. Ist kaum drinnen, daher passt der Schritt in Richtung eines aktiveren Albums und einer weniger schubladenfähigen Soundcollage. Die lässt sich eher mit Dance und Hip-Hop ein als alles, was von den Briten bisher zu hören war, beweist aber dank des Bläser-Samples zu Beginn von Dangerous gleich in den ersten Sekunden die nötigen Qualitäten, um sich zu behaupten. Wundersamerweise nicht zur Single erkoren, ist der Opener mit seinem pochenden Beat, der dynamisch-abgehackten Elektronikbausteine und dem bei weitem besten Zusammenspiel von Sim und Romy Madley-Croft ein Höhepunkt im Schaffen des Trios. Selbst wenn er es nicht wäre, bliebe immer noch der Beginn einer neuen musikalischen Zeitrechnung für The xx im Sinne einer kalten Schulter für verträumte, sphärische Ästhetik früherer Songs.
Genau die kommt einem natürlich wieder entgegen, in einer nur kurzzeitig keyboardlastigen Form ohnehin gleich mit Say Something Loving, das sich als gleichermaßen stimmiges wie schleppendes Ganzes einreiht in die Armada der suboptimalen Duette, die die Band bisher abgeliefert hat. Während man dem nachhallenden, hellen Synth-Flimmern von A Violent Noise und dessen spärlichen Gitarrenzupfern die verbliebenen Spuren des Debüts anhört und sie als immer noch vereinnahmend wahrnimmt, sind es die weniger ambivalenten Minuten, die hier zu den Gewinnern zählen. Keine Mixturen aus Dream Pop, Indie Rock und Electronica, sondern vermeintlich leicht zu kategorisierende Tracks sind die, die sich am besten entfalten. Neben dem R&B-angehauchten Dangerous also vor allem dessen direkter Counterpart, das karge Performance. Es ist vor allem Madley-Crofts bisherige Sternstunde, in der sie den alleingelassenen, im Nichts verhallenden Gitarrenzupfern eine gesangliche Zerbrechlichkeit entgegenstellt, die so nicht zu erwarten war. Der erste wirklich berührende Moment einer Band, die sich zwei Alben lang damit begnügt hat, sehnsüchtige Emotionen an der Oberfläche anzukratzen, sie gar nur zu imitieren oder aber keinen Weg zu finden, sie auf Songlänge am Leben zu erhalten.
Es wäre reichlich wunderlich, würden die drei das aufrechterhalten. Passiert nicht, wird gleich gar nicht probiert. Mit Replica begibt man sich zwar noch einmal erfolgreich auf den Pfad, der mit "xx" vorgegeben wurde, tauscht aber die so wichtige musikalische Leere von Performance mit der altbekannten Vorliebe für ein cineastisches Echo und wohl auf ewig kaum lohnende Paarläufe beim Gesang. Natürlich gelingt genau ein solcher im Opener, wobei dort rhythmische Freiheiten und die so wichtige Dynamik ein freieres Spiel der beiden Stimmen miteinander erlauben. Das kommt sonst nur mehr in I Dare You wirklich zum Tragen, dem der Qualitätssprung von Oliver Sim in puncto stimmlicher Fähigkeiten eindeutig anzuhören ist. Was man natürlich gleichermaßen hört, ist ein Produzent und Mischpultvirtuose, der die Domäne der Briten im Atmosphärisch-Verträumten zunehmend perfektioniert und durch so wichtige neue Einflüsse verfeinert und ihnen einen Charakter verleiht, der nicht mehr so uniform sein muss wie in den ersten Jahren. Die schimmernden Synths von A Violent Noise rufen in dem Sinne erstmals die 80er und ihre allseits bekannten Pop-Landschaften in Erinnerung, während On Hold übertrieben, aber doch noch lohnend mit Hip-Hop-tauglichen Stimmsamples spielt.
Dabei geht wenig daneben und dann doch zu viel, um "I See You" davor zu bewahren, den beiden Vorgängern qualitativ deutlich näher zu rücken. Die unsympathische gesangliche Melodramatik, die Madley-Crofts Auftritt in Brave For You prägt, lähmt dabei einen Song, der ohnehin durch die schwerer verdauliche Mischung minimalistischer Elektronik in den Strophen und sonniger Akkorde im Refrain wenig hergibt. Auf diesem Gebiet schwer schlagbar ist allerdings das finale Test Me, das zwar anfangs mit leichtem Soul-Charme und zurückhaltenden Klaviertönen punktet, sich allerdings bald in einem leblosen Nichts glitchiger Elektronik verliert. Wozu es das gebraucht hat, wird schwer zu argumentieren sein. Davon, dass man nach der Hochspannung, die die vorherigen Songs mitgebracht hätten, durch ultimative Leblosigkeit wieder runterkommen müsste, kann ja kaum die Rede sein.
Allerdings hat auch keiner von The xx erwartet, einen konstant unter Strom zu setzen. Die Erwartungen an das britische Trio waren und sind ja relativ klar definiert. Man bekommt romantisierenden Dream Pop mit dem Anschein emotionaler Tiefe und einen Jamie xx, der an seinen Geräten eine Präzision und ein Feingefühl an den Tag legt, dass es ohne Zweifel beeindruckend ist. Etwas schade ist nur, dass die letztliche musikalische Ausgestaltung nicht so wirklich erlaubt, dass aus der dritten LP der Band ein großer Wurf wird. Dass die Kritiker fast einhellig einen stilistischen Paradigmenwechsel diagnostiziert haben, stimmt nämlich nur insofern, als dass der Hamsterkäfig, der bisher die engen Grenzen des eigenen Schaffens symbolisiert hat, verlassen werden konnte. Ein allzu großer Schritt weg vom Althergebrachten ist "I See You" deswegen nicht, aber trotz allem das Lebhafteste, Vielseitigste und Kurzweiligste, was The xx bisher geschaffen haben.