von Mathias Haden, 20.06.2015
Das ambitionierteste Werk der Briten offenbart seinen Facettenreichtum mit jeder Welle.
Der nächste Zeitsprung bringt uns wieder einmal in die glorreichen Zeiten von Ballonhose, Neon und Haarspray. Während 1985 in Tokio mit der Gründung des Ghibli-Studios eine goldene Ära der Animation anbricht und irgendwo im Nordatlantik das Wrack der Titanic entdeckt wird, ist in der Musikszene alles beim Alten. New Wave dominiert auf den starken Schultern von A-ha, Tears For Fears und Konsorten die Hitparaden und die Charity-Single We Are The World wird zum Millionenseller. Die Welt war also geeint, alle zogen an einem Strang, alles in Butter, so scheint es aus der Retrospektive.
Schön und gut, Mike Scott interessierte das alles freilich wenig. Viel zu akribisch arbeitete der britische Exzentriker daran, mit seinen Waterboys seine Vision von einem vielschichtigen Sound zu verwirklichen, der bereits Mitte der 80er wirken sollte, als entstammte er längst vergessenen Tagen. Dafür schaffte sich das Mastermind hinter dem Bandnamen neben seinen beiden Kollegen auch eine kleine Armada an Gastmusikern, im September kam das Produkt, die dritte LP This Is The Sea, schließlich auch in die Läden.
Angeführt von Lead-Single The Whole Of The Moon, die kleine Charterfolge feiern konnte und bei seiner Wiederveröffentlichung 1991 dann richtig einschlug, sicherte die LP der Band ihren ersten Chartseintritt und wurde zu einem ihrer bekanntesten Werke.
Zu Recht, könnte man meinen, lässt man sich vom mitreißenden Wellengang von This Is The Sea erst einmal erfassen. Opener Don't Bang The Drum hüllt sich noch in unheilvoller Zurückhaltung, ehe ein Taifun an Gefühlen heranstürmt und ein Klangbrei aus heulenden Blechbläsern und einem entfesselten Scott ansetzt, um das der Band zugeschriebene Attribut der 'Big Music' nachhaltig zu unterstreichen. Klasse Auftritt jedenfalls, und doch nur ein kleiner Einblick auf all das noch kommende. The Pan Within wird zur dramatischen Reise zwischen unaufdringlicher Spiritualität und großer Erzählkunst, vermählt Streicher, Klavier und den Berserker hinter dem Mikro tadellos und brilliert auch mit seinem aufreibenden Spannungsbogen. Etwas politischer wird die Truppe mit Old England, ohne allerdings auch nur den Hauch ihrer Intensität einzubüßen. Anfangs noch von einer sanften, beschwingten Klaviermelodie getragen, mündet die Angelegenheit bald in ein von marschierenden Drums und singenden Bläsern augmentiertes Hörvergnügen, dem Scott mit seinen apokalyptischen Visionen nur die Krone aufsetzen muss und schließlich konkludiert:
"Evening has fallen
The swans are singing
The last of Sundays bells is ringing
The wind in the trees is sighing
And old england is dying"
Damit ist der Triumphzug der Briten aber längst nicht abgeschlossen. Besonders Closer und Titeltrack This Is The Sea wird noch seiner Rolle als fulminanter Schlusspunkt gerecht, wirft mit seinen mehrspurigen, akustischen Gitarren Bilder von aufschäumenden Fluten ins Gedächtnis, während Streicher, Bläser und adäquater Text wiederum den Rest erledigen. Auch die schöne Liebesbekundung Trumpets, bei der der Name zum Programm mutiert und das nebenbei auch noch mit hübschem Klavierspiel punktet, zählt zu den besten Cuts - auch wenn es nicht mit den bisher genannten mithalten kann. Zu denen zählt letztlich aber unbedingt noch Signatursong The Whole Of The Moon, der trotz oder gerade wegen seiner bemerkenswerten Mischung aus zeitgeistlichen Synthies, Synthbass und einem pompösen Arrangement mit Trompetensolo, Klavier, smoothen Drums und Co. auch heute noch zeitlos klingt und auf jeder Ebene für Begeisterung sorgt.
So könnte man fast vermuten, Mike Scott würde mit der Realisierung seiner Vision geradeaus auf ein unfehlbares Meisterwerk zusteuern. Leider bleibt aber auch This Is The Sea nicht von Fehlkalkulationen, kleinen Schnitzern und Ballast verschont, kommt mittendrin gelegentlich vom Kurs ab. Das bitterste dieser kleinen, aber unverkennbaren Störfeuer wirft seinen Rauch vom kurzen Spirit. Dieses fragmentarische 109-Sekundennümmerchen fällt getrost in die erste Kategorie der gerade genannten, macht mit einem herrlichen Klaviermotiv unglaublich viel her, weckt trotz seines spirituellen Textes rasch die Neugier - und wird noch vor seiner Entfaltung, die man mittlerweile immerhin im beiliegenden Bonusmaterial der Reissues bewundern kann, völlig abgebremst. Schade, verpasste Chance. Medicine Bow entspricht der zweiten Kategorie, ist in seiner ungezähmten Wildheit nicht der Hörgenuss, den der ordentliche Text versprechen würde und lässt in dieser - ebenfalls gekürzten - Version nur bedingt Freude aufkommen. Die einzige wirkliche Gurke, und damit direkt aus der letzten Sparte kommend, ist das wütend überdrehte Be My Enemy, das sich dem Sound der Platte nicht wirklich anpassen kann, dessen Stimmung gar sabotiert und sich mit wildem Karacho und lästigem Gitarrenriff letztlich in eine Sackgasse bugsiert.
Unnötige Sargnägel also, die der LP letztlich wichtige Punkte im Kampf um einen Platz unter den ganz Großen kosten. Und doch gehört This Is The Sea zumindest an jenen Fuß des Pop-Olymps angesiedelt, an dem sich schon manche große Platte niedergelassen hat. Von einem Sänger, der derart fokussiert ist, für jedes Stück sterben würde und seinen Helfern, die in zauberhaften Arrangements wahrhaft magisch agieren, hätte man sich aber auch nichts anderes erwarten dürfen: "Because that was the river / and this is the sea."