von Mathias Haden, 05.01.2014
Endlose Songdauern als Spielverderber am erfolgreichsten Werk der Briten.
Trends, Trends, Trends. Immer diese Modeerscheinungen. Oder kann mir sonst jemand erklären, wie sich Urban Hymns, das dritte Studioalbum der Briten The Verve, über 10 Millionen mal verkaufen konnte und momentan das 17.-bestverkaufte in der Geschichte der UK-Charts ist? Und dann noch bei den Brit Awards 2010 für das beste britische Album der letzten dreißig Jahre nominiert? Nun ja, zumindest nicht gewonnen. Irgendwas muss aber dran sein an den fünf Jungs (die zu dieser Zeit das Line-Up bildeten) rund um Sänger und Frontmann Richard Ashcroft, der danach eine recht erfolgreiche Solokarriere hinlegen konnte. Und auf jeden Fall muss irgendetwas an diesem Longplayer dran sein, soviel steht fest.
1997, im Zuge der allmählich abklingenden, im Prinzip bereits veralteten Britpop-Welle veröffentlicht, wurde das Album für die Briten einerseits zum größten Triumph, andererseits bedeutete es aber auch das Ende der Band. Bald darauf war nämlich fast zehn Jahre Schluss für Ashcroft und Co., nachdem Gitarrist Nick McCabe ausgestiegen war. Auch schon vor den Aufnahmen des Albums war man sich eineinhalb Jahre aus dem Weg gegangen.
Und obwohl diese Vorgeschichte wenig Mut macht, legen die Herren richtig los, mit Bitter Sweet Symphony liefern sie gleich zu Beginn ihren besten und gleichbedeutend auch bekanntesten Song und schrauben die Erwartungshaltung gehörig nach oben. Basierend auf einer orchestralen Aufnahme des Rolling Stones-Songs The Last Time, fegt der Track sechs Minuten dahin und vollbringt das Kunststück, ohne Tempowechsel dennoch keine Sekunde zu lang zu wirken. Selbiges gilt auch für die zweite Single The Drugs Don't Work und das schöne Sonnet, beide neben akustischen und E-Gitarren auch noch mit feinen String-Arrangements, vorwiegend aus Violinen bestehend, besetzt und beide unglücklicherweise auch an den Anfang des Albums gesetzt.
Denn für den Rest des Albums kann man ähnliche Lobeshymnen nicht ohne weiteres gelten lassen. 75 Minuten dauert der Britpop-Wälzer nämlich. An sich keine problematische Länge, wäre das Album in sich ein wenig vielschichtiger. Klingt härter, als es in Wirklichkeit ist. Denn die Songs sind keineswegs eintönig, neben den wohlplatzierten Streichern sind es besonders Gitarrist McCabe und Sänger Ashcroft, die die Stücke immer wieder in die richtige Richtung lenken. Letzterer hat ein nettes Stimmchen, allerdings geht er über die Gesamtdauer viel zu selten an die Grenzen seiner Fähigkeiten.
Nicht nur, aber doch auch dadurch leiden viele Tracks schwer unter ihren beachtlichen Längen. Besonders The Rolling People startet dynamisch und anziehend, verliert aber spätestens nach fünf von sieben Minuten seinen Reiz. Ebenso verhält es sich mit dem zurückgelehnten und experimentellen Catching A Butterfly und dem kraftvollen Closer Come On. Warum man diese anständigen Songs so in die Länge ziehen musste, wird für immer ein Rätsel bleiben. Nur ein einziges Mal erreichen die Briten die Vierminutengrenze nicht, das kurze und gleichermaßen verstörende Neon Wilderness dümpelt aber ebenso in nichtigen musikalischen Sphären wie das ziellose Space And Time.
Der Ausdruck 'musikalische Sphären' trifft den Grundton des Albums überhaupt ganz gut. Gitarrist McCabes einzigartiges Spiel erzeugt fast durchgehend spacige Atmosphäre und lädt in Kombination mit der üppigen Produktion zum Träumen ein. Besonders Velvet Morning überzeugt mit musikalischer und textlicher ("Yes / I'm coming down / Your beauty is / A colour surround Into the half light / Another velvet morning for me") Schönheit und bildet gemeinsam mit Publikumsliebling und Single Lucky Man die späten Höhepunkte nach einem langatmigen Mittelteil.
Ashcroft macht seinen Part als primärer Songwriter ganz gut, hat einiges Interessantes zu erzählen. So widmet er einige der berührendsten Zeilen auf dem Album in The Drugs Don't Work vermutlich seinem Vater:
"All this talk of getting old
It's getting me down, my love
Like a cat in a bag, waiting to drown
This time, I'm coming down"
Mit dem letzten Werk vor der langen Pause haben The Verve einige der unterhaltsamsten Minuten ihrer Zeit kreiert. Leider auch viele unnötige. So kommt es, dass man hier zwar auf seine Kosten kommt, aber niemals in irgendeiner Weise in höchsten euphorischen Ebenen schwebt. Denn obwohl man kaum einen Track als wirklich schlecht bezeichnen könnte, kann man die sympathischen Kompositionen auf einer Hand abzählen.
Nein, Urban Hymns ist mit Sicherheit nicht der heilige Gral der Popmusik. Nicht einmal im vergleichsweise winzigen Kosmos des Britpop der 90er Jahre. Und doch, etwas zeichnet das dritte Album der Briten aus. Aber ob es einfach der Umstand ist, dass es trotz unkonventioneller Länge und der Schwachstellen zum Megaseller wurde oder der, dass Songs wie Bitter Sweet Symphony oder The Drugs Don't Work auch bald 20 Jahre nach der Veröffentlichung noch frisch klingen, man weiß es nicht. Fakt ist, The Verve waren mit ihrem spacigen Britpop-Album zur rechten Zeit am rechten Ort und können sich heute dafür feiern lassen. Auch wenn hier weniger eindeutig mehr gewesen wäre.