von Mathias Haden, 27.10.2013
Avantgarde und Dissonanzen im Zeitalter der Hippies.
Lou Reed war mit Sicherheit niemals ein Sympathieträger. Er war - zumindest in der Öffentlichkeit - weder ein freundlicher, noch ein besonders entgegenkommender Mann. Und doch war er so viel. Er war seiner Zeit stets voraus, ein Vordenker der Marke Lennon, Bowie oder Wilson, ein großartiger Musiker und besonders eins: Er war für viele, wie auch mich, ein Held und eine der großen Figuren der späten 60er und 70er. Ja, richtig, er WAR. Denn vor wenigen Augenblicken erreichte mich die Nachricht, dass Lou vor wenigen Stunden im Alter von 71 Jahren das Zeitliche segnen musste. Der ewige Rebell, der in den letzten Jahren seinem Alter doch merklich Tribut zollen musste, kämpfte schon länger mit gesundheitlichen Problemen und erlag trotz erfolgreicher Lebertransplantation vor 5 Monaten seiner Krankheit. R.I.P. Lou!
Eigentlich hatte ich nicht geplant, heute einen Review zu schreiben. Aber ich zolle hier nur jenem Ehre, dem Ehre gebührt. Reed war Ende der Sechziger Frontmann der Rockband The Velvet Underground. Gemeinsam mit seinen unter Musikliebhabern heute ebenfalls verehrten Kollegen John Cale (später ersetzt von Doug Yule), Sterling Morrison und Maureen Tucker kämpfte er einen Krieg, den er nicht gewinnen konnte: Die frühe avantgardististische Rockmusik seiner Band unter die Leute zu bringen. Nachdem sich die Band als Hausband von Ikone Andy Warhol versuchte und eines der legendärsten und einflussreichsten Alben aller Zeiten veröffentlichte (der Erfolg blieb aus), machte sie sich daran, ein noch unkonventionelleres, noch unzugänglicheres zu kreieren und auf die Verkaufszahlen zu pfeifen.
Das Ergebnis darf sich mit White Light/White Heat wahrlich sehen lassen. Zwar ist die mit vier Studioalben recht kurzgehaltene Diskographie der New Yorker ohnedies über jeden Zweifel erhaben und der Platz für das beste Album der Gruppe bereits vergeben, trotzdem gelingt ihr mit dem zweiten Album ein großer Wurf.
Aber mal der Reihe nach: Mit lediglich 6 Tracks und einem an Dissonanzen anno 1968 nicht überbotenen Klangmuster stürmte The Velvet Underground einer amerikanischen Musikszene voraus, die noch voll auf den Hippietum ab dem späten 1967er-Jahr gestützt war. Waren die Beatles mit ihrem Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band, die Rolling Stones mit ihrem Their Satanic Majesties Request oder die Doors mit ihrem selbstbetitelten Debüt dafür verantwortlich, dass sich Hundertausende der Psychedelic-Welle hingaben, so war kein Platz für die kakophonen Klänge der experimentellen Underground. Heute nicht von wenigen als die einflussreichste Band der Geschichte bezeichnet, traf sie damals den Zeitgeist überhaupt nicht und erhielt kaum Beachtung in einer sich vor Woodstock befindenden Gesellschaft des Love & Peace.
Dabei finden sich hier so große Kompositionen. Da wäre z.B. der Titeltrack. Später von Fan David Bowie auf seinen Konzerten gern gecovert, macht es als Opener viel her. Der Song, der von Drogenkonsum und den auftretenden Effekten handelt, wird von Reed gesungen und endet mit einem grandiosen, verzerrten Bass-Solo. Auch Lady Godiva's Operation ist umwerfend. Dieser dreht sich um den operativen Eingriff an einer Drag Queen, der aber statt einer Geschlechtsumwandlung in einer Lobotomie endet. Cale singt in der ersten Hälfte des Tracks in seiner zärtlichsten Stimme über die Drag Queen, Lady Godiva als Person. Stets begleitet von Percussions und unruhigen Gitarren, schaltet sich später auch noch Reed ein. Weniger als Duettpartner, eher als zwischenzeitlicher Spaßvogel, der immer mal wieder ein paar sarkastische Wortfetzen einwirft und den Eingriff näher beschreibt. Ganz groß!
Das konventionellste Stück an einer an Disharmonien geladenen LP findet sich in Here She Comes Now, der schönen, von Dissonanzen befreiten Hoffnung, dass ein bestimmtes Mädchen auftauchen würde. Dieser Ausnahmezustand auf dem Album macht es zu einer angenehmen, aber mit 2 Minuten doch recht kurzen, Abwechslung. Vor allem lässt sich auf diesem erkennen, in welche Richtung sich die Band im nächsten Jahr bewegen würde. Die restlichen Songs sind das düstere The Gift und das aggressive, mit krachenden Gitarrenwänden versehene I Heard Her Call My Name. Ersteres, eine Kurzgeschichte vorgetragen von John Cale auf der einen Lautsprecherseite, mit großartig eingespielten Instrumental auf der anderen Seite. Klingt über 8 Minuten vielleicht anstrengend, ist es aber absolut nicht.
Der wichtigste fehlt aber noch. Closer und alles in den Schatten stellendes Statement Sister Ray. Dieser 17 minütige Jam, der von einer Orgie handelt, ist mit Cales verzerrter elektrischer Orgel, den durchgehenden kakophonen Klängen und dem einzigartigen Text ein echtes Unikat, ein Relikt der avantgardistischen Rockmusik. Eigentlich möchte ich gar nicht zu viele Worte über diesen Song verlieren, was sich durchaus im Rahmen des Möglichen befinden würde. Beeindruckend ist dieser nahezu komplett improvisierte Song allemal, und ich möchte keine Sekunde der beachtlichen Gesamtlänge missen.
Klingt bis jetzt ja ziemlich positiv. Ist es tatsächlich auch. The Velvet Underground legen mit White Light/White Heat kein Jahr nach dem legendären Debüt das nächste Meisterwerk hin. Noch unzugänglicher, noch aufreibender als die Bananenplatte der Warhol-Zeit. Wem der European Son des Vorgängers schon zu verstörend war, der sollte bitte die Finger von diesem Werk lassen, ehrlich! Und nein, ich bewerte nicht extra großzügig aus nostalgischen Gründen. Dieser Longplayer, mit all seinen unkonventionellen Klängen, ist eines der beeindruckendsten Alben der späten Sixties, die bis heute nicht gealtert sind.
Zu Guter Letzt noch ein Wort des Dankes. Ich möchte Dir, lieber Lou, für alles danken. Deine Musik und deine Texte haben mich in meiner Jugend immer beeinflusst und bis heute meinen Geschmack und auch meinen Humor entscheidend geprägt. Ich wünschte, es gäbe sie noch, diese charismatischen Männer, wie du es einer warst. Jene, die zu ihren Überzeugungen stehen und sie immer vertreten. Du, der du dich noch gegen jeden Kontrahenten verbal (oder auch nicht) durchgesetzt hast. Nur einen konntest du nicht besiegen... R.I.P., dein treuer, aber stets distanzierter Bewunderer.