von Mathias Haden, 05.04.2017
Die Unverwüstlichen des Rock überwinden eine komplizierte Dekade und finden wieder zu sich selbst.
Selbst jenen Leuten, die sich der Musik lediglich in großen Bögen nähern und höchstens in Gesellschaft des Autoradios oder bei Feten die nicht gerade sensibilisierten Ohren spitzen, ist bewusst: Es gibt kaum einen besseren Indikator für verstrichene Zeit. Ob man sich nun bei einem Liebessong der vor Äonen Verflossenen vergegenwärtigt oder bei Careless Whisper von George Michael Erinnerungen an die ste(r)ilen 80er mit ihren modischen Meriten einen Schmunzler entbehrt, stets lautet das Fazit: "Unglaublich, dass das schon so lang her is'". Dass sich auch in meiner Sammlung mittlerweile Alben stapeln, die ich schon weit über zehn Jahre mein Eigen nenne und die sich teilweise seit ihrem Erscheinen hier befinden... nun, auch ich werde allmählich alt. Wie sehr die Zeit vergeht und dieser eigene Verfall voranschreitet, merkt man aber erst so richtig, wenn man sich durch die Diskographien der Unverwüstlichen gräbt und feststellt, dass Steel Wheels der Rolling Stones bereits nahezu genauso weit von der Gründung der Band, wie vom heutigen Tage weg ist. Steel Wheels. Diese Scheibe, mit der die Stones die 80er nach zwei grauenhaft bunten Alben in weit sympathischeren Grautönen einigermaßen erfolgreich hinter sich lassen konnten. Erfolgreich nicht nur, weil im Anschluss die bis dato größte Tournee folgen sollte, sondern in erster Linie, weil mit LP #19 wieder jener erdige Sound ins Sichtfeld rücken konnte, der während der letzten Jahre und Alben von der plastischen Produktion vermehrt in den Hintergrund geschoben wurde. Außerdem schienen sich die Glimmer Twins Mick Jagger und Keith Richards nach langwierigen Streitigkeiten endlich wieder lieb zu haben. Stones-Fans durften aufatmen.
Nur um beim Opener Sad Sad Sad wieder die Luft anzuhalten. Plötzlich rauscht da aus dem Nichts ein ungezähmter Riff wie ein geölter Blitz durch die Kanäle. Drei Gitarren, gelöste Spannungen und wiedergefundene Spielfreude auf diesem einfachen, aber umso effektiven Rocker. Und weil's so viel Spaß macht, finden sich auf dem Longplayer gleich ein halbes Dutzend dieser kraftvollen Rock-Nummern. Mal besser, mal schlechter, aber nie so eindringlich wie auf dem wuchtigen Einstieg. Die besseren heißen Terrifying, das mit unheilvollen Rhythmen und coolen Percussions kokettiert sowie Can't Been Seen, auf dem sich Richards das erste von zwei Mal auf Steel Wheels als Lead-Sänger die Ehre gibt und dank eines wie immer vitalen Charlie Watts hinter den Drums ordentlich Gas gibt. Die schlechteren gibt es allerdings auch, in diesem Fall sind das Hold On To Your Hat, welches mit röhrend wilden Gitarren und einem entfesselten Jagger hinterm Mikro ziel- und planlos voranprescht, letztlich aber fader nicht sein könnte. Und Rock And A Hard Place, das in seiner gedrosselten Geschwindigkeit eigentlich gar nicht zu den Rockern zählt, im Refrain von spießigen Bläsern veredelt und spätestens im zweiten Teil seiner nicht enden wollenden Odyssee aber genau darauf abzielt, in diesem semierlesenen Kreise mitwirken zu dürfen, ist auch nicht aus wesentlich besserem Holz geschnitzt.
Interessanter sind hier bemerkenswerterweise ohnehin die ruhigeren Stücke. Dazu würde ich auch Lead-Single Mixed Emotions zählen. Einer der letzten großen Hits der Band, welcher durch samtig raue Harmoniegesänge die Magie der beiden kreativen Köpfe einfängt und damit zum Sinnbild für das wiedererstarkte Bandgefüge wird. Da auch die Rhythmusabteilung einen souveränen Auftritt hinlegt, gibt es hier eigentlich nichts zu beanstanden. Die wahren Überraschungen lauern aber erst kurz vor dem Ende mit zwei Nummern, die man den ewig als Altherrenband bezeichneten Stones 1989 gar nicht mehr so zugetraut hatte. Einerseits Almost Hear You Sigh, die vermutlich schönste Ballade der Band nach 1978, die in ihrem luftig arrangierten Gewand einen erfreulichen Beweis dafür darstellt, dass Jagger und vor allem Richards, der zur selben Zeit seine brennende Freude an der Musik mit seiner ersten Solo-LP wiederfand, ihr Gefühl für emotionale Darbietungen in den für die Band komplizierten 80ern keineswegs verloren hatten. Die andere ist Continental Drift, ein experimentelles Pop-Potpourri, dessen Message man getrost vergessen kann, mit seinem östlich angehauchten Rhythmen und beengender Atmosphäre aber locker zu den besten Stücken auf Steel Wheels gehört.
Bleibt noch die generelle Frage nach der Produktion. Und hey, man könnte auch hier behaupten, die etwas metallene Produktion wäre nicht perfekt gealtert - und hätte damit wohl auch recht. Gerade der an den Wurzeln der Stones mit dem Blues flirtende Track Hearts For Sale wirkt in seiner Studio-Ausgestaltung etwas blutleer und die hübsche Ballade Blinded By Love fällt mit seinem überbordend countryesken Arrangement in Kombination mit einer Affinität für Bossanova-Rhythmen ebenfalls etwas aus der Reihe. Ansonsten ist das über weite Strecken schon ordentlich produziert und nicht zu dick aufgetragen, sodass die Band noch dynamisch und druckvoll aus den Lautsprechern dröhnt. Steel Wheels mag garantiert nicht zu den besten Alben der Rolling Stones zählen. 1989 durfte man sich aber einfach freuen, dass eine der größten Bands der Welt den drohenden Zusammenbruch noch abwenden konnten und zu alter Harmonie zurückfand. So klingt die neunzehnte LP und dafür gebührt ihr zumindest ein respektables Plätzchen im bandeigenen Repertoire. Nuff said, over and out!