von Kristoffer Leitgeb am 08.05.2021
Mit gewohnt atmosphärischer Poesie und Sounderweiterung nahe am Pomp in Richtung Gipfel.
"Wir haben 100 Leute gefragt..." Diese legendäre Phrase, die ein Jahrzehnt lang jede Folge des "Familien-Duell" geprägt hat, wurde dabei nie zu der Frage "Wir haben 100 Leute gefragt, was ist denn eigentlich ihr musikalisches Lieblingsjahrzehnt?" Wahrscheinlich, weil sich die Antwortmöglichkeiten doch in sehr engen Grenzen gehalten hätten, die Fans der 1830er-Jahre nicht so zahlreich waren. Interessant gewesen wäre es jedoch jedenfalls und ist es auch heute noch, sodass die Frage zumindest in den Kreisen Musikinteressierter in schöner Regelmäßigkeit auftaucht. Und während die 60er, 70er und 90er dabei dauerhafte Favoriten sind, die 50er alteingesessene Liebhaber und die 80er ein paar vehemente Verteidiger kennen, fristen die 00er-Jahre ein Dasein als Mauerblümchen. Selbst jene, die darin aufwachsen durften, sehen wohl kaum den Höhepunkt des Schaffens in diesen Jahren. Immerhin ein paar Wackere finden sich dennoch, deren Großartigkeit kaum zur Debatte steht, obwohl sie dem Beginn des neuen Jahrtausends entstiegen sind oder darin einige ihrer größten Vorstellungen abgeliefert haben. Neben Eminem, den White Stripes, Arcade Fire, den Strokes oder Sufjan Stevens gebührt diese Ehre auch dessen wiederholten Kooperationspartnern von The National. Denen lagen die Kritiker mit Mitte der 00er-Jahre für einige Jahre fast alle, einige von ihnen bis heute zu Füßen. "Boxer" ist nahe dran, schon alleine als Rechtfertigung dafür auszureichen.
Diesen Status hat die LP wohl auch nicht zuletzt inne, weil sie nach dem vorangegangenen, bereits in ähnlichem Maße gefeierten "Alligator" den nächsten und wohl bedeutendsten Schritt in Richtung eines Durchbruchs ins allgemeine Bewusstsein markiert hat. Darüber hinaus hat man es aber auch mit einer eindrucksvollen Weiterentwicklung dessen zu tun, wofür diese Band steht. Eine wirkliche Verbesserung zum großartigen Vorgänger mag man fast nicht feststellen, jedenfalls aber eine spürbare Veränderung, die nach der Unterschrift bei Beggars Banquet die Ressourcen des Labels, vor allem aber die gewonnene Selbstsicherheit für eine deutliche klangliche Ausbreitung nutzt. Die Zurückhaltung der ersten, in Eigenregie veröffentlichten Alben, die auch auf "Alligator" trotz Avancen in Richtung eines fülligeren Sounds immer noch dem Indie-Begriff entweder Rock und Folk, meist ein Gemisch aus beidem hinterherwarf, ist so ziemlich Geschichte. Trotz Beständigkeit im Produzentensessel und unveränderter Arbeitspraktiken von den Home Studios aus, gewinnt der Stil der Band merklich an Größe, an Varianz, an Dramatik, aber auch einfach an Lautstärke. Matt Berninger und die Dessner-Zwillinge spielen sich immer noch gegenseitig die Ideen zu, lassen diese aber etwas weiter ausufern und ein bisschen strahlender in Szene setzen, um so bereits Opener Fake Empire zu einem beispielhaften Stück zu machen. Mit tristen Klavierakkorden und Berningers markant tiefem, drückend schwerem, melancholischem Gesang startend, erlaubt sich der Song mit dem Einsetzen der dynamischen, lautstarken Drums, auch insgesamt an Volumen zu gewinnen. So wird das Klavierspiel druckvoller, die Gitarre steigt mit dezenten, pulsierenden Zupfern ein, vor allem aber prägt sich neben Berningers beherrschendem Tonfall der pulsierende Bläsersatz im Outro ein, der sich mit einem rauen Riff duelliert. Es ist ein eindringlicher Beginn, der auch ideal den Übergang von der Vergangenheit zur Gegenwart der Band illustriert, sich aus dem dezenten, brüchigen Start zu einem nahezu ekstatischen Finale entwickelt.
Dass die Band dabei zweifellos imponiert, ein perfekt austariertes musikalisches Schauspiel liefert und den atmosphärischen Aufbau großartig meistert, ist dabei kaum zu leugnen. Gleiches gilt jedoch auch für die Tendenz zur klanglichen Übergröße, die plötzlich spürbar wird und im Laufe des Albums immer wieder dazu führt, dass man sich an einem Punkt sieht, wo es fast zu viel des melodramatisch anmutenden Guten wäre. Deswegen ist es ein schwieriges Ausbalancieren dieser Pole für die Band, die sich in der Tracklist trotz Berningers dominanter Stimme und dem damit durchgehend prägnanten ureigenen Klang beinahe erratisch gibt und zwischen lauten Ausbrüchen und gefühlvoller Zurückhaltung schwankt. Umso imposanter ist es, wie eindringlich und überzeugend der überwiegende Teil der Songs dennoch gerät. Dass es dem Quintett gelingt, die drückende, beinahe klaustrophobe Schwere der Riffwände von Mistaken For Strangers und das zerbrechliche Akustikzupfen von Start A War unter einen Hut zu bringen, beide sogar in verdammt atmosphärische, emotionale Momente zu verwandeln,
rechtfertigt eine Verbeugung.
Müsste man sich zwischen beiden entscheiden, die Wahl fiele auf Mistaken For Strangers, das die damals angestrengten Vergleiche mit Joy Division nicht ganz aus der Luft gegriffen erscheinen lässt, mit seinem hymnischen Charakter und einprägsamen Refrain aber sogar das Kunststück schafft, eine Brücke zu schlagen zwischen Joy Division, Muse und irgendwie gar den Killers. Ein Kunststück, das ich im Leben nicht für möglich gehalten hätte, das aber jedenfalls einfach nicht so überzeugend und atmosphärisch geraten darf. Start A War ist dem gegenüber eine Bindeglied zur früheren Arbeit, verlässt sich neben der dezenten akustischen Gitarre nur auf die wuchtig pochenden Drums und langgezogene, sphärisch im Hintergrund schwebende E-Gitarrenakkorde.
Diese Bipolarität sorgt für die bisher größten Höhepunkte der Band, lässt dank der teils dramatischen Stimmungswechsel auch die Emotionen umso eindringlicher erscheinen, sorgt aber auch für Verwerfungen an anderer Stelle. Brainy channelt ein wenig das oben über alles gelobte Mistaken For Strangers, wirkt aber trotz seines starken Antriebs mit den überpräsenten Drums etwas überfrachtet, findet auch mit seinem Refrain keine wirkliche Tiefe. Green Gloves auf der anderen Seite ist nach dem mit Squalor Victoria abgeschlossenen, lauten Rocktrio ein sehr abrupter, akzentarm wirkender Akustiksong, der mit seinem halb genuschelten Gesang und dem ruhigen, aber doch zunehmend pompös anmutenden Soundgewand kaum Gefühl vermittelt. Und so ist die LP nicht frei von Tracks, deren Ansätze alle Stärken der Band mitbringen, die sich aber nicht vollends entfalten können und daher als grundsolides, sympathisch anklingendes, aber wenig Eindruck hinterlassendes Füllwerk zurückbleiben, wie es Apartment Story oder Guest Room sind.
Es handelt sich dabei dann aber doch um eine deutliche Minderheit der hier versammelten Kompositionen, der noch so manch gewinnende Darbietung gegenübersteht. Squalor Victoria beispielsweise macht keine Anstalten, zu einem Albumfavoriten zu werden, ist mit seinem hypnotischen Drumpart, den flehenden Streichern und dem rastlosen Klavierpart aber eine willkommene Neuerung für die Band. Das Ergebnis ist eine merkwürdige Symbiose aus diesen Einzelteilen und Berningers darin beinahe etwas untergehender, letztlich aber doch als starker Kontrast bestehender Stimme. Slow Show wiederum entwickelt sich nach spärlichem Beginn zum harmonisch ausufernden Folk Rock, in dessen Bridge plötzlich Akkordeon und Horn miteinander konkurrieren, bis eine unwiderstehliche Klaviermelodie die Führung übernimmt. Späte Höhepunkte sind jedoch zweifelsfrei die ruhigeren, an alte Tage erinnernden Racing Like A Pro und insbesondere Ada, in denen Sufjan Stevens am Klavier aushilft. Der verkörpert dabei eine Ruhe, die die sonstige instrumentelle Rastlosigkeit des ersten erdet und atmosphärisch trägt, im wunderschön geformten Ada dagegen vor allem im Refrain für schlichte klangliche Schönheit verantwortlich ist.
"Boxer" scheint nicht immer schön sein zu wollen, jedenfalls aber durchgehend atmosphärisch, eindringlich und emotional. The National gelingt das in gewohnter Manier häufig, aber in ungewohnter Manier sehr unterschiedlich. Mal ist es rifflastige Schwere, dann wieder romantisches Klavierspiel oder eine alleingelassene Akustische, die im Nichts erklingt. Und wenn alles nichts hilft, kommt Ada und arrangiert alles vom Klavier, über Gitarren, Drums, Streicher, Bläser bis zum Banjo so mühelos und meisterlich, dass es ein Genuss ist. Dass dabei die Texte in den obigen Absätzen ein bisschen sehr kurz gekommen sind, muss eingestanden werden, lässt aber wenigstens mehr Entdeckungsspielraum. Wobei der bei Berningers gewohnt kryptischer, diffuser Lyrik, die sich eher der musikalischen Form anpasst und sich mehr dem emotionalen Gehalt als der konkreten Aussage verpflichtet fühlt, sowieso nie zu kurz kommt. Insofern darf man, klangliche Verwerfungen in einzelnen Songs hin oder her, genießen, sich mitreißen lassen, atmosphärisch untergehen und ein bisschen mitfühlen. Jedenfalls aber darf man schon ein wenig in den Jubel einstimmen, der damals die Kritikerwelt erfasst hat, auch wenn der vielleicht der überschaubaren Konkurrenz der 00er-Jahre zuzuschreiben ist.