von Mathias Haden, 16.07.2016
Die letzte der klassischen Kinks-LPs als Road Trip durch amerikanische Klangsphären.
Es war ein langer Weg für die britischste Pop-Band der 60er hin zu Country- und Blues-beeinflusstem Rock. Nachdem die Kinks um Ray Davies nach Jahren als erfolgreiche Singles-Truppe und schließlich als verschrobene Konzeptverfechter verschrien, kommerziell praktisch am Boden, endlich in den 70ern angekommen waren, sollte der größte Erfolg in puncto Kohle mit Lola Versus Powerman and the Moneygoround, Part One und der zugehörigen Hitsingle Lola erst auf das zu jener Zeit als Quintett bestehende Ensemble warten. Das brachte immerhin den nächsten 5-Jahresdeal mit RCA und führte zu wiedererstarkten Erwartungen von allen Seiten. Dass diese zumindest in finanziellen Aspekten nur äußerst bedingt erfüllt werden konnten, passt eigentlich nur zu gut in das große Enigma dieser schrulligen Kleinstadtästheten. Dabei blieben sich die Kinks in ihrer Themenauswahl sehr treu, sollte das neunte Studienalbum, das heute als letztes ihrer "goldenen Ära" gilt, wiederum von den Ärgernissen des modernen Großstadtlebens und dem Bekenntnis zur einfachen Arbeiterschaft handeln. Und obwohl die Musik sehr stark von US-amerikanischen Einflüssen gezeichnet ist und sich die Themenbereiche fast wie aus dem Script eines Ozu-Films lesen, so ist Muswell Hillbillies, benannt nach dem Gebiet Muswell Hill im Norden Londons, in dem die Davis-Brüder aufwuchsen und schließlich die Band gründeten, wieder gewohnt britisch geworden.
Seinem Unmut über den gesellschaftlichen Wandel macht Frontmann Ray Davis gleich in den einleitenden Zeilen des Albums, am 20th Century Man, Luft: "This is the age of machinery / A mechanical nightmare / The wonderful world of technology / Napalm, hydrogen bombs, biological warfare". Was so zynisch beginnt, nimmt unverfroren resignierend seinen Lauf und mündet in Worte, die uns allen doch schon einmal im Kopf herumschwirrten: "Ain't got no ambition, I'm just disillusioned / I'm a twentieth century man but I don't wanna be here". Ein Kleinstadtpoet vor dem Herrn, dieser Ray Davis. Dass nebenbei auch mit harten Gitarreneinlagen, wuchtigen Drums und fideler Orgel kokettiert wird, sei ebenfalls löblich erwähnt. Ganz grundsätzlich ist es wie so oft der ältere Davis-Bruder, der als Schreiber von Musik und Texten bzw. als Vertoner dieser die entscheidenden Akzente setzt, im wahrsten Sinne des Wortes. Bei aller Dixieland-Jazz-Affinität, Blues-Sensibilität und der Mischung aus Honky-Tonk-Piano und Dave Davis‘ feinster Slide-Guitar schafft es Ray nämlich tatsächlich, sogar den brillanten Acute Schizophrenia Paranoia Blues zu einem englischen Pop-Kleinod zu formen. Diese Britishness, immerhin das große Markenzeichen der Band, muss nur selten weiter in den Hintergrund rücken, etwa am mit glockenklarer Stimme vorgetragenen Folk-Pop von Oklahoma U.S.A. samt Akkordeon-Tönen oder dem schwungvollen Closer Muswell Hillbilly, der trotz jangelnden Gitarren und ordentlich Country-Twang näher an Victoria der Band dran ist, als an den Country-Rock-Vertretern westlich des Atlantik.
Man erkennt bereits, die Suche nach frischen Einflüssen bzw. das Vordringen in amerikanische Gefilde geschieht auf Muswell Hillbillies nicht gleichbedeutend mit einem Imagewechsel der Band. Von den packenden Melodien, die der Band in der vorigen Dekade kurzzeitig großen Ruhm einbrachten, haben sich auch hier einige unter das Sammelsurium an eklektischen Songideen gemischt. Gelegentlich weiß Davis exzentrische Ader allerdings über das Ziel hinauszuschießen. Holiday schafft mit sanften Saitenanschlägen, Akkordeon und lieblichen Klavierklängen eine heimelige Atmosphäre, lässt sich dank einem Sänger, dessen Singstimme wirkt, als habe er während dem Vortragen eine riesige Zigarre im Mund und einen Kater vom Vortag, nicht so recht genießen. Auch Complicated Life geizt nicht mit einem gehaltvollen Arrangement um kraftvolle Gitarrenlicks und einer unaufdringlichen Orgel, schweift dann leider zunehmend in Richtung La-La-La-Pubhymne ab, die sich immerhin in einem brauchbaren Fazit auflöst: "Life is overrated, life is complicated / Must alleviate this complicated life".
Dazwischen gibt es einige Tracks, die zwar nicht zu den essenziellen Stücken der Band gezählt werden sollten, aber für eine kurzweilige LP zwischen Rock, Blues, Country und vereinzelt Anleihen aus Jazz und dem geliebten Vaudeville garantieren. Präzise arrangiert und behutsam austariert ergänzen diese sich mit den besseren und schwächeren Nummern zu einem losen Konzeptalbum, das in Ray Davis und seinem charakteristischen Bariton wieder einen exzellenten Erzähler vorfindet. Und auch wenn das Album in letzter Instanz nicht ganz mit den superben Alben der Spätsechziger mithalten kann, auf denen Rays Beobachtungen des englischen Stadtlebens noch apodiktischer festgehalten wurden und praktisch keine groben Filler verzeichnet werden mussten, steht Muswell Hillbillies für das letzte der klassischen Kinks-Alben. Dass selbst diesen nicht überall ein unumstrittener Status zukommt, spricht wieder für die im Rückspiegel höchst eigenwillig anmutende Reputation der Londoner, die sich in unnatürlichen Aufs und Abs manifestiert. Natürlich haben die Emporkömmlinge der British Invasion nach wie vor ihre treu ergebenen Befürworter, doch werden die Kinks aus der Riege ihrer Ära eher in sauerstoffarmen Atemzügen genannt. Eine Hörprobe der neunten LP sollte eigentlich Abhilfe schaffen können.