von Kristoffer Leitgeb, 15.02.2020
Ein rockmusikalischer Paukenschlag voll Blues, Jazz und psychedelischen Geniestreichen.
Nun denn, auf in die nicht zu gewinnende Schlacht. Der Gegner? Über 5 Dekaden ausführlicher musikjournalistischer Dokumentation und Rezension. Diese Hürde ist eine altbekannte, begegnet sie mir doch bei fast jedem Review über ein Album der 60er, erstmals kommt sie allerdings in Verbindung mit einem gewissen Jimi Hendrix auf mich zu. Seines Zeichens sehr frühzeitig verstorbener Gitarrengott, Rockrevolutionär und künstlerische Lichtgestalt einer Generation, die im Woodstock Festival ihren klimaktischen Höhepunkt gefunden, hat der Mann auch ein paar Alben zusammengestellt. Doch nur drei an der Zahl, sind es alle Klassiker, wenn auch in unterschiedlichen Abstufungen, was allerdings hauptsächlich mit der, relativ betrachtet, durchwachsenen bis unterwältigenden Natur von "Axis: Bold As Love" zusammenhängt. Abseits davon ist der der Typ über so ziemlich jeden Zweifel erhaben, was ihn zu einem etwas schwierigen Objekt für eine Auseinandersetzung macht, weil man sich ja dann eher nicht verbal vor ihm in den Staub werfen will. Zumindest nicht nur. Blöderweise wurde mir dafür sein erster und gleichzeitig stärkster, im LP-Format verfügbarer Auftritt überlassen, der einem beweist, dass man sich definitiv erst nach dem Anhören experienced nennen darf.
Um das hinreichend zu begreifen, muss man sich immer vor Augen halten, auf welch bizarre Art beeindruckend und einschüchternd es in Wahrheit ist, dass dieses Album auch über 50 Jahre nach seiner Entstehung noch ein einzigartiges Erlebnis darstellt. Ok, sind wir ehrlich, es wird begünstigt dadurch, dass es seit 1997 in einer nennenswert ausgeweiteten Fassung existiert, die auch hier herangezogen wird. Zu tun hat das damit, dass auf keiner der beiden Originalausgaben, die dem britischen bzw. dem US-Markt zugeschnitten waren, alle der so wertvollen Stücke des Jimi Hendrix und seiner beiden Mitstreiter vereint werden. Erst viel später sollte man diese 17 Songs bekommen und feststellen, dass unter den Outtakes ein paar der besten Minute aus deren Karriere zu finden sind. Klar, dass der Typ auch auf seinen B-Sides noch unschlagbar ist....
Na, auf jeden Fall hat man es mit "Are You Experienced" definitiv mit der LP zu tun, mit der die Experience am wenigsten einem flüssigen, geeinten Gesamtbild und vielleicht gar einem atmosphärischen Spannungsbogen folgen wollten. Stattdessen ist es eine einfache Songsammlung, die allerdings von einer solchen Stärke ist, dass man nicht auf die Idee käme, sie mit Liedgutsammelsurien der frühen Rock'n'Roll-Ära zu vergleichen. Qualitativ ist das hier eines der geschlossensten vorstellbaren Alben, selbst wenn bei weitem nicht alles so golden glänzt wie der hiesige Klassiker unter den Klassikern, Purple Haze. Diese herkulische Aufgabe, mit einem halbminütigen Songintro mitzuhalten, das die Essenz von Hard Rock und psychedelischen akustischen Genüssen so treffend einfängt und vereint, kann man aber auch von fast nichts anderem erwarten. Deswegen kann schon allein der Rest des Tracks nicht ganz daran herankommen, was allerdings so wenig stört, dass es fast schon wieder beeindruckend für sich ist.
Das Beeindrucktsein findet so schnell auch kaum ein Ende, was allein schon darin begründet liegt, dass Hendrix wie nie wieder in seiner Karriere eine womöglich noch etwas rohe und kantige, aber wunderbar prägnante Vermählung von Blues, Jazz und hartem Rock gelingt. Deswegen kann man sich seine Lieblinge ganz frei aussuchen: Will man sich traditionell bedächtigem Blues hingeben, in dem Hendrix Gitarre gemächlich jault, nimmt man sich Red House. Hat man es lieber angriffig und straight, bleibt man entweder schon ganz zu Anfang bei Foxy Lady hängen oder verharrt andächtig bei Fire. Möchte man einen gefühlvollen, bluesigen Pop-Rock-Song - was in Anbetracht der Konkurrenz nicht wie die prädestinierte erste Wahl erscheint -, kann man sich über The Wind Cries Mary freuen. Liegt einem dagegen daran, den Revolutionär in seiner revolutionärsten Form zu erleben, kann man sich den ambitionierten Studiospielereien von Are You Experienced? oder aber den makellosen Stilwechseln von 3rd Stone From The Sun hingeben. Musikerherz, was könntest du mehr wollen?
Manche hätten womöglich lieber noch etwas mehr Finesse bei all der Finesse. Das sollten sie wenig später mit "Electric Ladyland" und dessen unnachahmlichem musikalischem Fluss sowie dessen weit subtilerem musikalischen Auftreten bekommen. Hier ist man etwas unruhiger unterwegs, was aber auch den ganz großen Vorteil hat, dass man keines dieser 17 Stücke als zu viel erleben würde. Das ändert zwar wiederum nichts daran, dass man Love Or Confusion und I Don't Live Today trotz bemerkenswerter Feedback- und Mikro-Spielereien als die unfertigsten und daher durchschnittlichsten Minuten erlebt. Ultimativ ist man aber weitestmöglich von jeglicher Langeweile entfernt. Stattdessen ist es eine Genussfahrt, die einige offensichtliche Höhepunkte mitbringt. Das finale Highway Chile ist als geradliniger, dahintrabender Rocker ein geschmeidiges, melodisches Gustostückerl, in dem Hendrix genau die richtige Mischung aus dem Fokus auf die geniale Hook und freimütigen Fingerübungen an der Gitarre findet. Am anderen Ende der Skala findet man die stilistischen Verrenkungen von 3rd Stone From The Sun, die zu einem guten Teil von der genialen Arbeit des Bassisten Noel Redding und seinem Kompagnon Mitch Mitchell möglich gemacht werden. Beide bringen mehr als nur einen Hauch von Jazz mit, veranstalten hinter Hendrix eine gediegene Wanderung durch das eine oder andere Tempo, wobei vor allem Mitchell genug Zeit findet, um die exzentrisch-sphärischen Feedbackexzesse des Frontmanns mit dynamischen Ausritten zu verfeinern. Dass da die jeder Natürlichkeit beraubten, sporadischen Sprechgesänge komplett aus dem Blickfeld verschwinden, wird kaum überraschen.
Das überzeugt zwar nicht sehr viel, aber doch ein bisschen mehr als die rückwärts abgespielten Riffs, von sporadischen Klaviereinsätzen, Marching Drums und dann doch wieder richtig herum gespielten Gitarrenzupfern eingefasst, des Titeltracks. Und das heißt viel, weil der auch verdammt stark ist. Genauso wie das gediegen heruntergespielte Hey Joe, die Cowbell-Großartigkeit Stone Free, deren kraftvoll mehrstimmiger Refrain ein Albumhighlight ist, oder Remember oder das erstklassige Can You See Me oder oder oder. Zu wenig Platz, zu viele starke Songs, die zwar schon mitunter den Weg hinunter in "Ah, das ist auch noch da"-Sphären finden, hauptsächlich aber eine großartige Vorstellung nach der anderen bedeuten.
Was an dieser Stelle hinlänglich bewiesen sein dürfte, ist die Tatsache, dass all das nur sehr mäßig die Genialität des Albums einfängt. Ist auch schwierig, bei all den wohltemperiert eingesetzten Effekten, den selbstsicheren Vocals, der durch die Bank herausragenden Rhythm Section und einem Gitarristen, dem allein schon mit Worten nicht beizukommen ist. Das Einzige, was in dieser Rechnung noch fehlen könnte, sind die entsprechend erstklassigen Zeilen und auch wenn das definitiv nicht im Fokus des Jimi Hendrix gestanden ist, ist es ihm unter anderem im Höhepunkt der Höhepunkte dieses Albums, nämlich 51st Anniversary, doch gelungen. Und dieses rundum makellose Liedchen war noch nicht einmal Teil der originalen Tracklist, sondern nur B-Side von Purple Haze! Das ändert nichts daran, dass Hendrix' Plädoyer gegen die ihm nahegelegte Ehe gleichermaßen locker wie gewichtig daherkommt.
Trotzdem, die Texte sind nicht zwingend das, was einen zu Jimi Hendrix und seiner Experience treibt. Viel eher sind es Geniestreiche an der Gitarre, melodische Gustostückerl, produktionstechnische Waghalsigkeiten und schlicht rundum harmonisches Liedgut, das man sich von dem Trio erwartet. Auf "Are You Experienced" bekommt man all das in einer Masse, dass man sich herzlich schwer damit tut, genau zu sagen, was denn nun wo auf der Favoritenliste steht. Ein sehr gutes Zeichen, aber nicht das einzige verfügbare, mit dem sich die herausragende Qualität dieses Debüts untermauern lässt. Spätestens in Form des Rereleases sind es mit knapp einer Stunde ziemlich viele Songs, die auf einen warten. Nichtsdestotrotz ist jegliche Langeweile ganz weit weg, stattdessen regiert ein imposanter Abwechslungsreichtum, eine Atmosphäre unendlicher Harmonie, Kreativität und Ausdrucksstärke. Mehr kann man wahrscheinlich nicht mehr verlangen, oder?