von Mathias Haden, 24.10.2013
Depression und Drogen als Rezept für das düsterste aller Cure-Alben.
"It doesn't matter if we all die...", so hallt es durch den Raum. Kein kurzer Moment der Vorwarnung, rein in das düstere Vergnügen. Von wem konnte man sowas Anfang der Achtziger erwarten, wenn nicht von Vorzeigevampir Robert Smith und seinem Gefolge von The Cure. Das vierte Album der Briten, Pornography, stellt den ersten Teil der selbstbeschriebenen 'Cure defining Trilogy' dar und wurde im Mai 1982 veröffentlicht. Thematisch bildet es die logische Fortsetzung zu den finsteren Vorgängern Seventeen Seconds und Faith. Menschen, die ohne Antidepressiva das Ende des Tages nicht erleben würden, wird an dieser Stelle strikt von der Entdeckung dieses Werkes abgeraten.
Heute als Meilenstein im Katalog der Band und als weitläufiger Einfluss bezeichnet, kann man sich mittlerweile glücklich schätzen, dass es überhaupt zu diesem Album gekommen ist. Drogenmissbrauch und heftige Streitereien innerhalb der Gruppe, die damals aus dem Trio Smith, Lol Tolhurst und Simon Gallup bestand, erschwerten eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Letzterer verließ nach der Veröffentlichung sogar die Band, um 1985 wieder anzudocken. Trotz der Hindernisse und der nicht gerade positiven Resonanz die das Album von der Presse erhielt, entwickelte es sich zum damals erfolgreichsten Werk der Gruppe. The Cure selbst wandte sich danach einem eher massentauglicheren Sound zu und wurde zwischenzeitlich zu einer der größten britischen Rockformationen.
Mit der bereits zu Anfangs erwähnten optimistischen Einleitung startet Pornography dann auch. Es ist vom Start nicht wegzuleugnen, dass hier entweder ein depressives Genie oder zumindest ein verrückter Visionär am Werk sein muss. Vermutlich stimmt beides teilweise, ersteres ist allerdings von der Geschichte wirklich überliefert worden. Smith war während der Aufnahmen tatsächlich ein mentales Wrack. Was ihm persönlich mit Sicherheit nicht gut getan hat, ist für das Songwriting des Albums aber Gold wert.
Das bringt mich auch gleich zu einem wichtigen Punkt. Robert Smith und gelungene Songtexte, das passt eigentlich wie die Faust aufs Auge. Man kann von den Alben des exzentrischen Briten und seiner Begleitband halten, was man möchte. Die eine oder andere Zeile findet aber bei jedem irgendwie gefallen. Natürlich auch - oder gerade - hier.
Im Prinzip kann man die Rechnung einfach gestalten: Disintegration, der musikalische Höhepunkt der Band, minus dem bombastischen Sound. Was die Chronologie anbelangt, so muss es hier natürlich andersrum verlaufen, aber prinzipiell kommt das als Beschreibung so hin.
Und das kommt überraschenderweise echt gut rüber. Die minimalistischen Gitarren- und Keyboardklänge erdrücken die Songs in keinster Weise, von durchzogenen Klangmustern wie einige Jahre später noch keine Spur. Smith sagte einst, er wollte einen praktisch unerträglichen Sound erschaffen. Das gelingt ihm dann aber keineswegs. Von 'unerträglich' ist man hier auch in der qualitativ klammsten Sekunde noch Meilen entfernt. Dafür spielt die Band doch zu stark und Smith erzeugt bereits mit jedem Wort einen Hauch von Spannung.
Dabei kommen einem Worte wie 'großartig' oder 'grandios' kaum über die Lippen. Getragen von stampfenden Drum-Beats zeugen Opener One Hundred Years oder Closer und Titeltrack Pornography von dunkelster Schönheit, ohne aber mit diesen Adjektiven beschrieben werden zu können. Und damit möchte ich nicht falsch verstanden werden, ich kenne nämlich kaum anziehendere und doch so schön beklemmende Lieder wie die beiden genannten.
Apropos Drums. Was Lol Tolhurst auf diesem Album fabriziert, kann sich wirklich sehen lassen. Auch durch ihn gewinnt das Gesamtwerk eine wunderbar quälend-drückende Note. Besonders das überzeugende The Hanging Garden aber auch das solide Siamese Twins machen sich Tolhursts beeindruckendes Getrommel zu Eigen. Dazu noch Smiths teils aus der Ferne erklingender Gesang in Kombination mit Gallups dezentem Bass, das ist großes Kino.
Auch der Rest bleibt mehr oder weniger solide. Die 3 Jungs erleben zwar kleine Ups and Downs auf ihrem Trip, aber ins Bodenlose driftet keiner. A Short Term Effect wirkt mit seinen überflüssigen Echos vielleicht ein bisschen öde, dafür bietet das starke Cold mit Songzeilen wie:
"Scarred
Your back was turned
Curled like an embryo
Take another face
You will be kissed again
I was cold as I mouthed the words
And crawled across the mirror
I wait
Await the next breath
Your name
Like ice into my heart"
genau das, was Fans so an der Band lieben.
Klingt alles in allem nach einem großartigen Gesamtwerk, dessen Einzelteile nicht unbedingt alle großartig sein müssen, right? Ganz genau so ist es auch. Pornography wird immer als das Werk stehen, auf das Die-Hard-Cure-Fans schwören werden. Abseits davon wird es vermutlich immer etwas polarisieren. Dabei ist es ein Werk voll düsterer Anmut, an Lebensfreude kaum zu unterbieten und doch so schön ermutigend.
'Lovecat' Robert Smith hat bei den Arbeiten an dem vierten Cure-Longplayer bestimmt einige seiner neun Leben lassen müssen. Umso erfreulicher, dass das Ergebnis durchaus zu gefallen weiß. Damit hatte die Band endlich ihren definierenden Klang für sich entdeckt. Ohne dieses Album würde es möglicherweise viele der heutigen Acts gar nicht geben, womöglich nicht einmal das sieben Jahre später erschienene Meisterwerk Disintegration. Nein, Pornography ist bei weitem kein Meisterwerk. Und es sieht sich selbst auch nicht als eines. Es ist lediglich die Kreation eines depressiven Querdenkers und seiner Meute unter den Einflüssen ihres regen Drogenkonsums. Was das Album so besonders macht ist dieser Effekt, mit minimalistischen Instrumentierungen ein derart aufreibendes Hörerlebnis zu erschaffen und den aufmerksamen Lauscher in eine Art Paranoia-Zustand versetzt, dem er erst entfliehen kann, nachdem sich die letzten Takte des Titeltracks langsam gesetzt haben und er wieder zu atmen beginnt. Selten waren unerträgliche Melodien so voll Grazie und doch dermaßen entfernt von Perfektion.