von Mathias Haden, 14.02.2015
Zerfahrenes, aber weitestgehend überzeugendes Triple-Album der ehemaligen Punkgötter.
Was mussten Fans der Londoner gejodelt und gegackert haben, als durchsickerte, dass nicht nur eine neue LP ihrer Helden am Weg war, sondern gleich dazu eine Triple-Version. Nun, vielleicht nicht ganz. Ein paar Bierchen gezwitschert, den einen oder anderen Toast auf die Rabauken ausgesprochen; man kennt sie ja nur zu gut, diese Punks. Dabei hatten diese im Dezember 1980 gar nicht so viel zu feiern, bedeutete das vierte Album Sandinista! doch die endgültige Abwendung von den aufrüttelnden Punk-Kalibern des Debüts. Das Quartett führte den Gedanken des sagenumwobenen Vorgängers (London Calling) fort, setzte sich mit Funk, Dub, Jazz und weiteren Sparten auseinander und arbeitete gewissenhaft an ihrem Einfluss für die Achtziger. Aber genug der Beschreibungen, mit insgesamt 36 Tracks und fast zweieinhalb Stunden Laufzeit gibt es ohnehin genug zu erzählen.
Die fördern, an der Masse der eingebrachten Ideen gemessen, freilich ein insgesamt sehr zerfahrenes Hörerlebnis zu Tage. An alte Tage erinnern höchstens die Texte, die in Fällen von Washington Bullets oder Something About England zu den stärksten der Bandkarriere zu zählen sind. Als übermäßig unerfreulich erweist sich allerdings die immer wieder über die Stränge schlagende Experimentierfreudigkeit der Briten. Besonders die Annäherungen an den Dub erweisen sich wieder und wieder als schwierige Hürden für den Hörer. Die sechste und letzte Seite der Triple-LP ist überwiegend mit Dub-Versionen von bereits auf dem Album gehörten Songs gefüllt, dazwischen vertont ein Kinderchor den Bandklassiker Career Opportunities.
Die mühsamsten Minuten abseits der letzten Seite finden sich immer wieder zwischendrin. Das von Bassist Paul Simonon eingesungene The Crooked Beat mäandert stolze fünfeinhalb Minuten in einem unbeweglichen Nichts dahin, verharrt nach einer vielversprechenden Einleitung bis zum Schluss in Langeweile. Mensforth Hill ist eine klangliche Collage, die das starke Something About England rückwärts abspielt und mit Overdubs versieht. Als Track natürlich nicht zu gebrauchen, als Idee für spätere Künstler sicher nicht zu verachten. Ein Stück, das zwar auf allgemeine Beachtung bauen kann, mich selbst aber unglaublich nervt, ist das von Ska und Reggae beeinflusste Junco Partner, auf dem Frontmann Joe Strummer in einer Stimme krächzt, die an einen betrunkenen Pete Doherty erinnert. Man erkennt bereits, mit 36 Tracks ist das so eine Sache mit der Konstanz.
Dafür bietet das, vom Ausmaß her, kolossale Album genug Argumente, welche die positive Resonanz der Medien nicht nur auf musikhistorische Hintergründe zurückführen lassen. Allen voran der starke Einstieg mit The Magnificent Seven, das von den frühen Hip-Hop-Gruppen der Siebziger beeinflusst ist und die wohl erste Rap-Nummer einer weißen Band darstellt, und Hitsville U.K., einem Duett von Gitarrist Mick Jones und seiner damaligen Freundin Ellen Foley, mit der verführerischsten Melodie der LP. Bleiben wir aber gleich beim besagten Jones. Der entpuppt sich nämlich wieder einmal als ganz heiße Aktie. Unter seinen sechs vokalischen Auftritten ist kein einziger Ausfall, dafür liefert er einige der besten Momente der 144 Minuten. Das Cover von Police On My Back wird zum mitreißendsten Stück und überzeugt mit seiner rockigen Dynamik und seinen singenden Gitarren; so machen sich The Clash den ursprünglich reggaelastigeren Song zu Eigen und füllen ihn mit einer auf Sandinista! einzigartigen Rock 'n' Roll Sensibilität. Der nächste Geniestreich Jones' ist Somebody Got Murdered, eine großartige Mid-Tempo-Rockkomposition, die mit ihrer ernsten Thematik und ihrer poppigen Natur und Mitsingrefrain einen angenehmen Kontrast bildet, dazu noch mit Jones' bester Gesangsperformance und flimmernden Synthies punktet:
"Somebody got murdered, his name cannot be found
A small stain on the pavement, they'll scrub it off the ground
As the daily crown disperses no one says that much
Somebody got murdered and it left me with a touch"
Aber nicht nur Mick Jones hat seine Hausaufgaben ordentlich erledigt. Auch unter die Strummer-Tracks fallen einige, die das vierte Album mit Qualität bereichern. Etwa das Reggae-infizierte Washington Bullets, auf dem der Frontmann mal wieder etwas zum Thema Politik zum Besten gibt, dazu noch das starke One More Time oder das ambitionierte Broadway. Letzteres ist ein von Jazz-Einflüssen zehrendes Stück, das sich über seine Länge von fast sechs Minuten entfaltet und mit seinen Keyboards eine ganz eigene Atmosphäre schafft.
Zu den anderen Gewinnern der LP zählen noch das von Gast und Violinist Tymon Dogg geschriebene und gesungene Lose This Skin, dazu das von Drummer Topper Headon vorgetragene Ivan Meets G.I. Joe, die sich beide wiederum ziemlich vom Rest abheben und den vielseitigen Charakter weiter verstärken.
Die Punker und Raufbolde von The Clash sind also (lebend) in den Achtzigern angekommen. Statt wie die Kollegen von den Ramones ihrem Genre ewig treu zu bleiben, setzen die Briten weiter auf vermehrte Experimentierfreudigkeit und Innovationsgeist. Das Ergebnis ist Sandinista!, ein zerrüttetes Werk, dessen Tracks von belanglos bis grandios reichen; seine Wellen von Rap bis zum Gospel schlägt. Und obwohl die LP ein aufreibendes Erlebnis darstellt, dem man mit einiger Geduld und Nachsicht entgegentreten sollte, sind die überwiegend positiven Aspekte nicht von der Hand zu weisen. Das Quartett ebnet weiteren New Wave-Acts den Weg und liefert zudem einige der besten Tracks ihrer Karriere; da kann man es schon in Kauf nehmen, ein paar unhygienische Anhänger zu verlieren.