The Clash - London Calling

 

London Calling

 

The Clash

Veröffentlichungsdatum: 14.12.1979

 

Rating: 8.5 / 10

von Kristoffer Leitgeb, 18.03.2018


Vollendete Mehrdimensionalität aus allen Ecken des Rock und die gezähmte Seite der Rebellion.

 

Optische Reize können einen schon einmal auf die falsche Fährte führen. Aus der Welt zwischenmenschlicher Beziehungen ein altbekanntes und weithin beschriebenes Problem, aber auch im weiten Kosmos der Musik nicht zu unterschätzen. Manch eine Bühnenshow, das eine oder andere Video und natürlich, nicht zu vergessen, die große Kunst der Albumcovers haben da schon ihren Beitrag geleistet, um die Eindrücke, die Augen und Ohren bekommen, nicht zusammenpassen zu lassen. Im Punk ist sowas allerdings seltener, die über allem thronende Prämisse ehrlicher Direktheit widerspricht solchen Täuschungsmanövern ein bisschen und so haben die Dead Kennedys auf ihr Debüt brennende Autos gepackt, während die Ramones in Lederjacken und abgerissenen Jeans posieren wollten. Folgerichtig könnte man meinen, wenn schon auf dem Cover zu "London Calling" ein Bass seinem jähen, schmerzhaften Ende zugeführt wird, kennt auch die Musik nichts außer kontrollloser Aggressivität und Härte. Dem ist nicht so, wie eigentlich eh jeder weiß. Die Legende rund um die dritte Clash-LP kommt ja nicht von ungefähr, sondern eben gerade daher, dass da Punker plötzlich eine Vielseitigkeit beweisen, die im Genre ihresgleichen gesucht hat, noch dazu direkt auf einer Doppel-LP. Offensichtlich ein Himmelfahrtskommando, das aber nicht weniger erreicht, als einen Mythos zu begründen und einem Londoner Quartett die Möglichkeit zur Selbstadelung zu bieten.

 

Man könnte natürlich her gehen und einfach mal den Musikhistoriker rauslassen, von der logischen Entwicklung der Briten weg vom verhältnismäßig uniformen Standard des Punk und hin zu einer auf Reggae- und Ska-Einflüssen begründeten Mehrdimensionalität schwadronieren. Nur scheint das mit der Logik da nicht ganz so zu funktionieren. "Give 'Em Enough Rope" war anders als das Debüt, aber nie und nimmer so, dass danach ein 19 Songs umfassendes, gleichermaßen beeindruckendes wie konzeptionell schräges Rock-Epos folgen müsste. Was damit zu tun haben könnte, dass so etwas nie folgerichtig ist, sondern nur unter sehr günstigen oder aber extrem ungünstigen Bedingungen entstehen kann. Je nach Blickwinkel qualifizieren sich das Garagenstudio, in das man sich zurückziehen musste, die Schreibblockade von Joe Strummer und Mick Jones und die aufflammende Leidenschaft für alles, was dem Rock zuzurechnen ist, als günstig oder ungünstig. Gereicht hat es auf alle Fälle für einige ikonenhafte Riffs, die London Calling zu einer der definierenden Hymnen eines ganzen Genres haben werden lassen, die Death Or Glory als melodisch vielleicht größten Wurf von Mick Jones erscheinen lassen, die auch eine musikalische Spannweite vom verzerrten Blues-Rock von Brand New Cadillac bis zum unwiderstehlichen Reggae-Rock von Guns Of Brixton und den poppig-leichten Akkorden von Spanish Bombs ermöglichen.

 

Innerhalb dieser weitläufigen musikalischen Landschaft ist es dann verhältnismäßig schwer, Stärken und Schwächen genau herauszufiltern. Während nämlich Death Or Glory wie ein Gardemaß für alle späteren Anläufe eines mächtigen Melodic-Punk-Tracks wirkt und London Calling genauso wie das kurze Koka Kola und Clampdown dem Muttergenre der Band alle Ehre machen, wirkt die plötzlich zu Tage tretende Finesse im Studio an anderen Fronten beeindruckender. Vor allem auch im Hinblick darauf, dass man produktionstechnisch wenig an kantiger Rohheit eingebüßt hat, gleichzeitig aber die rhythmischen und stilistischen Experimente so klar und deutlich zu Tage treten, dass man die offensichtlichsten Komponenten dessen - das theatralische Klavier in The Card Cheat, den Latin-Bläsersatz in Rudie Can't Fail oder das eine oder andere Saxophon-Gastspiel - genauso klar wahrnimmt wie die subtileren Änderungen, die insbesondere die befreit aufspielende Rhythm Section betreffen. Topper Headon und Paul Simonon finden auf 19 Songs ähnlich viele Möglichkeiten, ihren bisherigen Performances neue Facetten hinzuzufügen und bieten ein Palette, die das aggressive, komplett melodiefreie Stampfen genauso abdeckt wie Jazz-Avancen und mehr als eine überdeutliche Verbeugung vor dem Rock 'n' Roll der 50er und 60er.

 

Dass sich darin keiner der vier verläuft, ist allein schon Leistung genug. Dass man es entgegen aller Erwartungen gleichzeitig schafft, die Vielfalt für einen über eine Stunde anhaltenden Spannungsbogen zu nutzen, trotzdem aber kein zerfleddertes, in alle Richtungen zerrendes Ganzes zu hinterlassen, markiert eigentlich die größte Leistung, die man dem Quartett zugestehen darf. "London Calling" ist keine qualitative Einheit - diese Idee ist bei aller Wertschätzung ein ungerechtfertigter Mythos im Mythos -, aber eine musikalische, deren Zusammenhalt nicht einmal nur durch Joe Strummers unfassbar melodiefreien und unsauberen Gesang gegeben ist. Dass der als Markenzeichen von The Clash gelten darf, ergibt sich. Sein leidenschaftliches Jaulen ist mitverantwortlich dafür, wie bissig und unverfälscht das Debüt der Band geklungen hat. Ganz abgesehen davon, dass ohne seine Texte viel dessen abgehen würde, was Songs wie Clampdown oder Death Or Glory zu ihrer Eindringlichkeit verhilft.

Und doch beschleicht einen der Eindruck, die plötzliche Abkehr von der Allmacht der röhrenden Power Chords würde seinem "Charme" nicht gerade entgegenarbeiten. Nicht umsonst ist es Mick Jones' unaufgeregter Auftritt im wunderbar sarkastischen Lost In The Supermarket, der am ehesten das Bild von kompletter Harmonie zwischen den Vocals und dem bassgetriebenen, wenig aufdringlichen musikalischen Ganzen zeichnet. Dass er ansonsten nur mehr im abschließenden, von der Mundharmonika verstärkten Pop-Rock in Train In Vain wirklich glänzen kann, sei ihm da verziehen. So nebenbei darf sich sogar der erstmals singende Paul Simonon, trotz seines offensichtlich mäßigen Talents, der Tonlosigkeit zu entfliehen, damit brüsten, The Guns Of Brixton nicht stimmlich zu überladen, stattdessen der Musik mitsamt der genialen, vielseitigen Percussion die Hauptrolle zu überlassen.

 

Während Strummer, seinem Naturell entsprechend, dazu weniger in der Lage ist, gebührt ihm nichtsdestoweniger anhaltender Jubel für einige seiner Texte, die der offenen Gesellschaftskritik der Briten diesmal eine subtilere Note mitgegeben haben und inhaltlich globaler denn je wirken. Das macht Lost In The Supermarket und London Calling zu großen Klassikern, sorgt für unzählige schwergewichtige Punch Lines. Dass sich gleichzeitig Cover-Versionen und Songs wie Lover's Rock finden, deren legitimer Platz auf der LP unter so vielen schwergewichtigen Rock-Hymnen anzuzweifeln wäre, ist trotzdem nicht von der Hand zu weisen. "London Calling" ist schon allein deswegen nicht perfekt, weil da zu viele Songs sind, die Gelegenheit bieten, unnötige Minuten zu fabrizieren. Einige davon gibt es, vor allem die zweite Hälfte ist nicht frei davon.

Bis dahin ist aber ein so überwältigender Kredit erarbeitet, dass das kaum noch ins Gewicht fällt. Zu verdanken ist das auch einem der stärksten Runs aller Zeiten auf einem Rock-Album. Von Lost In The Supermarket bis Koka Kola ist effektiv Fehlerfreiheit angesagt, ein musikalisches Meisterwerk zwischen Big-Band-Sound im Reggae-Gewand, ersten Anfällen von New Wave, schlichtem Punk und Spuren von Hard Rock erstreckt sich vor einem, dazwischen lyrische Großtaten, die am besten durch folgende Zeilen eingefangen werden:

 

"'N' every gimmick hungry yob digging gold from rock 'n' roll

Grabs the mike to tell us he'll die before he's sold

But I believe in this and it's been tested by research

He who fucks nuns will later join the church"

 

Insofern ist gesagt, was von zig anderen bereits gesagt wurde. "London Calling" verdient wie kaum ein zweites den Status als legendäres Album. Zweifelsfrei kann man allerdings auch sagen, dass von einem perfekten Album keine Spur ist. Zu oft hat man das Gefühl, Songs wären zwar erfolgreiche Reproduktionen des einen oder anderen Musikstils, ohne dabei aber größeren Wert für die Tracklist oder die inhaltliche Substanz der LP zu haben. Das ist in der Hinsicht egal, als dass dadurch das Hörerlebnis nur sehr bedingt leidet, genau das wird aber durch so manche zähere Performance, insbesondere in Verbindung mit suboptimalen Songlängen, an anderer Front gemindert. Bemängelt wird damit auf hohem Niveau, weil The Clash 1979 den Sprung dorthin geschafft haben, wo sie nicht mehr nur Punk-Götter waren, sondern gleich zu Meistern eines halben Dutzend Genres aufgestiegen sind. Das reicht trotzdem nicht für ihren besten Auftritt, allein deswegen, weil das Göttliche auf 19 Songs gleich viel mehr aufgeteilt werden muss als in früheren Tagen.

 


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