von Kristoffer Leitgeb, 22.10.2018
Kompromissloser Eklektizismus und Einfachheit wider sich erschöpfende Aufnahmebereitschaft.
Zugegebenermaßen musste ich bereits mehr als einmal auf der Länge eines Albums und der damit verbundenen Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten aufseiten der verantwortlichen Künstler herumreiten. Und es existieren auf diesem Planeten weit längere Alben als dieses, darunter bei weitem nicht nur obskure, sondern unter anderem Prince' "Emancipation" oder auch "Sandinista!", "Mellon Collie And The Infinite Sadness", "Stadium Arcadium" und mehr Swans-Alben, als irgendjemand wirklich braucht. Allerdings nimmt ein self-titled Album der Beatles in einer solchen Liste aus diversen, offensichtlichen Gründen einen besonderen Platz ein. Es ist beispielsweise das älteste wirklich bekannte solcher Prägung und kam damit vor den Exzessen des Prog Rock oder von Miles Davis in den 70ern. Außerdem stammt es von den Beatles. Noch dazu ist es ein vertontes Mahnmal für den steten Zerfall der Band. Und es stammt von den Beatles. Darüber hinaus erlaubt es sich trotz einer Länge von über eineinhalb Stunden das Fehlen jeglichen roten Fadens, jeglicher innerer Zusammengehörigkeit und jeglicher erkennbarer Harmonie innerhalb der Tracklist. Und natürlich, es stammt von den Beatles.
Wobei das an und für sich eher musikhistorische Relevanz hat und nur bedingt das Hörerlebnis beeinflusst. Andererseits wiederum ist die Geschichte der Band sehr eng verwoben mit der Geschichte des Albums - welch Überraschung... - und insofern ist es alles andere als wurscht, dass der Großteil der Songs einem indischen Ashram entstammt, dass John Lennon und George Harrison noch schnell vorher ihre ersten Soloalben veröffentlicht haben, dass der Summer of Love Geschichte ist. Was sind die direkten Folgen all dessen? Mehr allein gezimmerte Songs denn je, weniger die ganze Band umfassende Harmonie im Studio und damit sowohl beim Songwriting als auch beim Aufnehmen, weniger cineastisches Tamtam. Interessanterweise deutet zwar letzteres darauf hin, dass man sich nicht mehr zu klanglichem Größenwahnsinn hinreißen lässt, gleichzeitig veröffentlicht man einfach mal so 30 Tracks. Allerdings steht auch dieser Widerspruch nicht alleine da, denn trotz Ursprung im indischen Meditations-Lehrgang hält sich der psychedelische Touch der Songs in beeindruckend engen Grenzen, vergleicht man sie mit den teilweise überbordenden Auswüchsen der drei vorherigen Alben, "Magical Mystery Tour" eingerechnet.
Nachdem es aufgrund der glattem Irrsinn gleichkommenden musikalischen Streuung der Tracklist keine Möglichkeit der Einteilung gibt, gehen wir das Ganze doch der Einfachheit halber chronologisch an: Damit startet man auch sehr gut, weil McCartneys Back In The U.S.S.R. ein puristischer Rocksong ist, wie er ihn gefühlt seit Drive My Car nicht mehr abgeliefert hat. Dass sich der Track dabei so stark mit seiner Verankerung im Blues-Rock, gleichzeitig aber auch mit den offensichtlichen Avancen in Richtung Surf Rock und Beach Boys spielt, ohne dabei in einen Produktionsexzess zu verfallen, sei Beweis genug für die Abkehr von "Sgt. Pepper" und allem, was es ausgemacht hat. In der Folge kann man sich solcher straighten Rocker nur sporadisch erfreuen, was einem im Lichte dessen, wie gut die darin zur Schau gestellte Lockerheit Birthday ausschauen lässt und vor allem wie überzeugend Lennons Glass Onion als angesäuerte Abrechnung wirkt, zunehmend schade erscheint. Immerhin mangelt es auch an anderer Stelle nicht an Drive. Dass der auch so zum Einsatz kommt wie in Ob-La-Di Ob-La-Da spricht zwar nicht für McCartney, andererseits kennt die Bandgeschichte weit schlimmere Verbrechen als den gemütlichen Wohlfühl-Track mit dem latenten Reggae-Einschlag. Kein Mensch wird den Refrain jemals gut nennen können, aber immerhin gibt das Arrangement ein bisschen was her, ohne mit den Bläsern, Congas und dem Geklimper am Klavier gleich allzu kitschig zu wirken. Außerdem wird mir nie klar sein, wie man Ob-La-Di Ob-La-Da trotz dessen zum Speiben guter Laune verdammen, aber den Gipfel der fehlgeleiteten Unnötigkeit und bewussten Disharmonie, Wild Honey Pie, einfach so verschmerzen kann.
Das ist aber nebensächlich, viel eher sollte The Continuing Story Of Bungalow Bill, dessen luftiger Folk-Antrieb und die starke Ensemble-Performance im Refrain in den Mittelpunkt rücken. Da wird von Lennon genauso aufgegeigt wie später im etwas dramatischeren, aber dank George Martins Auftritt am Honky-Tonk-Klavier ab Songmitte immer noch ordentlich dahingaloppierenden Rocky Raccoon oder reichlich spät von Harrison in Savoy Truffle, das seine kratzigen Riffs großartig mit der Hammond-Orgel und den starken, blueslastigen Bläser-Parts kombiniert. Das sind die Minuten, in denen die LP auf- und später überlebt, weil man einerseits das Gefühl hat, immer noch eine funktionierende Band zu hören, andererseits ein neues Verständnis des Quartetts für die teils extravagante Ausstaffierung der Songs zu Tage tritt. Da wird nicht mehr arrangiert um des Arrangements willen, wie es in der Hochphase psychedelischer Anwandlungen den Anschein erweckt hat, stattdessen wird weit mehr der Melodie und dem dramaturgischen Aufbau der einzelnen Tracks untergeordnet. Das hat auch den netten Nebeneffekt, dass nicht mehr alles zugepflastert mit Soundeffekten ist, sondern die Musikalität im eigentlichen Sinne wieder an Stellenwert gewonnen zu haben scheint. Das hindert niemanden daran, sich die Stimme wie in Savoy Truffle durch den Reißwolf drehen zu lassen, aber es wird abgespeckt.
Mitunter wird das so dramatisch zelebriert, dass nicht mehr viel übrig bleibt. Das kann imposant enden wie mit Lennons einzigem Soloauftritt auf einer Beatles-LP, Julia. Das dezente Picking, mit dem er sich da selbst begleitet, ist zwar alles andere als virtuos, aber verfehlt den emotionalen Effekt zusammen mit seinen ruhigen Vocals nicht. Das gelingt hier oder auch in Blackbird und I Will, andere Versuche sich ruhiger zu geben, versanden dagegen mehr oder weniger. Harrisons Long, Long, Long findet keine Balance zwischen den übermäßig lauten Drums, dem verträumten Gesang und der eher lahmen Hammond-Orgel, Mother Nature's Song erliegt instrumental klassischem McCarthy-Kitsch mitsamt seichtem Gedudel, Good Night beschließt gleich das ganze Album in ähnlich lahmer und noch weitaus kitschigerer Manier. Da sind sie dann auch wieder, die cineastischen Tendenzen, nach denen einfach keiner gefragt hat.
Wobei man relativierend erklären sollte, dass nicht nur solcher Schmalz über das Ziel hinausschießt, sondern auch der ordentlich neben der Spur klingende Stampfer-Blues von Lennon in Yer Blues oder aber Harrisons allzu schwer verdauliche Abrechnung mit Polizei und Obrigkeit, Piggies. Da kann man antiautoritäre Strömungen noch so lieb haben, der mühsame Baroque Pop, der da mit Cembalo, Streichern und leider auch allerlei Grunz-Geräuschen zum Besten gegeben wird, ist kein positiver Auswuchs dessen.
Auf der anderen Seite steht für George Harrison allerdings auch der wohl einzige Track, der rechtmäßig unter den besten der Band gereiht werden darf, nämlich While My Guitar Gently Weeps. Ein geniales Stück Rockmusik, verziert mit Ringos ausgesprochen starken, rhythmisch vielschichtigen Drums, unterschwellig tonangebendem Piano, vor allem aber einer begnadeten Performance an der Gitarre von Harrison und Eric Clapton, der sich im großartigen Solo verewigt. Entgegen allen Beteuerungen, die LP wäre konventioneller als die vorherigen, sind es trotzdem eher außergewöhnliche Darbietungen wie diese von Harrison, die einem am ehesten im Gedächtnis bleiben. Da wäre Lennons Dreiteiler Happiness Is A Warm Gun, der sich auf spielerische und reibungslose Art zwischen ersten Gehversuchen in Richtung Hard Rock, psychedelischen Rhythmus- und Percussionspielereien und einer eindrucksvoll gesungenen Soul-Passage bewegt. Es gibt natürlich auch das ohrenbetäubende Geschrammel von Helter Skelter, das nach einem Hybriden aus Velvet Underground und Led Zeppelin klingt und so zu McCartneys coolstem Auftritt mutiert. Und dann ist da noch ein Song, der eigentlich gar kein Song ist. Das ist dann der Gipfel der Exzentrik und des Experimentierens für die Band bzw. eigentlich eher John Lennon, den er Revolution 9 getauft hat. Und während diese groteske Soundcollage definitiv niemandem im Ohr hängen bleibt, noch nicht einmal nach einem umgehenden Replay schreit, kommt in diesen achteinhalb Minuten eine Faszination für diese im ersten Moment wahllos zusammengestückelt wirkenden Sprach- und Soundfetzen auf, die auf der LP sonst beinahe nichts generieren kann. Natürlich regiert Chaos, das auch beklemmende Züge annimmt, aber es wirkt unweigerlich wie stark orchestriertes Chaos, bei dem allein die Masse an gebotenen Eindrücken imponiert.
Imposant ist auf "The Beatles" sonst nicht gar viel. Das allein soll nicht heißen, dass die LP schlecht wäre. Im Gegenteil, allein im Licht der Länge und Songzahl, ist es schon relativ bemerkenswert, dass die Band die Laufzeit überhaupt übersteht, ohne irgendwann nur mehr belangloses oder komplett fehlgeleitetes Material anbieten zu können. Aber es mangelt an Höhepunkten, die gerade einmal zwei, drei Jahre vorher noch die Tracklist dominiert haben. Ob es an der heranbrechenden Zersplitterung der Band liegt, dass man die Stärken aller Mitglieder zwar phasenweise erkennen kann, diese aber allzu selten voll ausgespielt werden, wird nicht zu klären sein. Auf alle Fälle hält es meinetwegen das Album am Leben, dass man ständig von einer Richtung in die andere gezerrt wird und ein Dutzend unterschiedlicher Genres die ganze Zeit um Aufmerksamkeit kämpfen, es hilft aber definitiv nicht bei der Entfaltung einzelner Songs. Und das ist nur ein Baustein des Problems, zu dem auch beiträgt, dass man Lennon und McCartney zwar in guter, definitiv aber nicht in großartiger Form erlebt und es beiden nicht gelingt, irgendeinen Volltreffer hervorzuzaubern. Stattdessen ist das Album ein ähnliches Mahnmal der Selbstüberschätzung wie schon "Sgt. Pepper", allerdings in anderer Form. Die Rückkehr zum Purismus macht zwar das Gebotene über die gesamte Laufzeit mit Sicherheit leichter verdaulich, doch die qualitative Spannweite scheint sich nach unten verschoben zu haben und der Plafond weniger die Perfektion, sondern die gediegene, souveräne Stärke zu sein. Das ist immer noch viel, gepaart mit einem Haufen passabler und einer kaum übersehbaren Zahl verzichtbarer Tracks aber auch nicht so überwältigend, dass man in Ehrfurcht erstarren müsste.
P.S.: Weil es doch gar so viele Songs sind und es irgendwie naheliegt, dass eine auf das Normalmaß der Beatles - üblicherweise 14 Titel - gestutzte Tracklist weitaus effektiver gewesen wäre, diesmal nicht nur drei Anspiel-Tipps, sondern eine Tracklist, die ein verdammt starkes Album ergeben hätte.
Anspiel-Tipps:
- The Continuing Story Of Bungalow Bill
- While My Guitar Gently Weeps
- Julia
- Birthday