von Kristoffer Leitgeb, 26.10.2017
Pauls Plan, Johns Mittelfinger und Georges Erwachen oder The beginning of the end...
Jeder intelligente und reflektierende Mensch wird sich irgendwann im Laufe seines Lebens der Theodizee stellen müssen. Die Theodizee, das ist die Eröterung der Frage, warum ein allmächtiger Gott das Leiden der Menschheit und jedes Einzelnen zulassen würde oder eher, inwiefern denn das Eine mit dem Anderen vereinbar wäre. Unmittelbar daran anschließend folgt die Frage, ob denn nun Gott wirklich existiert oder ob es sich dabei nur um einen wirren, bärtigen Typen handelt, der "Civilization" spielt. Warum das wichtig ist? Na, wegen des Humanismus und des Lebenssinns und der Logik. Und wegen der Beatles. Denn die haben Gottstatus und verdienen sich also auch, dass in ihre Richtung die Theodizee erörtert wird. Nichts bietet sich dafür mehr an als die berühmteste Kreation der Allmächtigen, das Album mit dem vielgesichtigen Cover und den vielgesichtigen Songs, "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band." Vielleicht liegt es an diesem Status, vielleicht auch an den unterschiedlichen Ergebnissen der Theodizee-Forscher, dass die LP gleichermaßen das geeignetste Spaltmaterial innerhalb des Beatles-Fundus zu sein scheint, das nur eine Zwei-Parteien-Kritik zulässt, nämlich die mit den anhimmelnden Verehrern, die ihre Bestenlisten schon vorreservieren, und die mit den verächtlichen Denunzianten, die Sinn- und Ernsthaftigkeit des Spektakels anzweifeln, stattdessen den Fassboden des Pop hören.
Es folgt: Der Versuch des einsamen Mittelweges.
Diese Aufgabe verlangt nach entsprechender Versuchsanordnung und also einer genauen Betrachtung des Biotops, innerhalb dessen das Jubiläums-Meisterwerk entstanden ist. Der gleichermaßen erlösende wie tödliche Begriff Summer of Love taucht dabei auf der zeitlichen Achse auf, genauso wie der Tod von Brian Epstein, seines Zeichens Verwalter des Beatles'schen Gottstatus und des damit angehäuften Vermögens und Image. Letzterer ist wichtiger für die Analyse, denn Epstein war laut einhelliger Meldungen der Sekundenkleber, der die Fab Four im Viererpack gehalten hat. Ohne ihn, plötzlich individualistische Tendenzen, die die fleckenfreie Weste der Band antasten. Was uns zu den bedeutenden Protagonisten bringt: Paul, dessen Kontrollzwang und Popliebe ihn zum Bandleader mutieren hat lassen und ihm eine absolute Mehrheit bei Abstimmungen über die Ausrichtung des Albums gewährt hat. John, dessen Drogenkonsum und Popunliebe zu wenig positiven Reaktionen auf das Band-in-der-Band-Konzept der LP hervorgebracht hat. George, dessen songwriterische und hinduistische Auferstehung eine Entscheidung zwischen Groll und Ellbogenmentalität verlangt hat. Und Ringo, tja, Ringo.
Die vier werden also zur Lonely Hearts Club Band und bei aller Lebenslust, die die Tracklist versprühen will, scheint der Name nicht ganz an der Realität vorbei. Zumindest ist die Einigkeit, die die alten Rhythm & Blues- und sogar noch die Folk-Tage ausgezeichnet hatte, latent am Bröckeln. Was damit zu tun haben könnte, dass bereits der eröffnende Titeltrack, der ohnehin eher als Einleitung gedacht war, eine Studioarbeit nahelegt, die so sehr auf produktionstechnische Finessen, revolutionäre Soundexperimente und ein wagemutiges Konzept ausgerichtet war, dass für Interaktion und tatsächliches Zusammenspiel nur am Rande Platz war. Zur Folge hat das, dass an der Oberfläche hier fast nichts mehr einfach klingt, kaum eine Sekunde ungenutzt verstreichen darf und keine zwei Songs, so sie nicht den gleichen Titel haben, auch im gleichen Genre landen dürfen. Pop-Rock ist es irgendwie trotzdem noch, doch die Lust für anderes überwiegt. Was dazu führt, dass mit dem Cembalo in Fixing A Hole ein Hauch von Chamber Pop Einzug hält, Within You Without You als Gipfel der ashraminspirierten Exotik dasteht, Lucy In The Sky With Diamonds nicht nur durch Initialenspielereien als Sinnbild des Psychedelic-Hochs gilt und mit When I'm Sixty-Four zwischen Varietee und Blaskapelle getanzt wird.
Passt das zusammen? Nein. Klingt es gut? Eigentlich doch. Aber das darf bei aller Akzeptanz des Mülls, den die Musikwelt zu bieten hat, hier auch nicht anders sein. Selbst "Pet Sounds" kann in puncto klanglicher Präzision, versteckter Großspurigkeit und Obsession nicht an diesen Monolithen ausufernder Studioexzesse herankommen. Nun ist das nicht a priori schlecht, es führt auch zu durchaus großartigen musikalischen Ausritten und zum wohl auf alle Zeit dem größten Jubel ausgesetzten Beatles-Song, dem finalen A Day In The Life. Das ist auch die beeindruckendste Zurschaustellung dessen, was die Gewissenhaftigkeit eines Paul McCartney, die angesammelte Routine der Band und die ihr innewohnende Ambition erreichen können, wenn man gleichzeitig mit beiden Beinen am Boden bleibt und somit nicht einfach die Instrumentenzahl nach oben schraubt, sondern den Fokus voll aufs Songwriting legt. Das Ergebnis ist der einzige Track der LP, dessen imposante Qualität in den kleinen Details, den feinen Nuancen und dem reibungslosen Zusammenspiel liegt.
Diesem würdigen Meisterwerk - das trotzdem zumindest bei mir keine Beatles-Liste anführen würde - stehen allerdings Kompositionen gegenüber, deren musikalische Extravaganz nur bedingt über ihre bedenkliche Einfachheit und zwischenzeitliche Dämlichkeit hinwegtäuschen kann. Gerade McCartneys Songs sind so elendiglich simpel, dass sie durch seine musikalische Verspieltheit, die ihn auch zu der bedenklichen Groteske When I'm Sixty-Four führt, und sein Faible für noch kaum bekannte Ufer neuester Studiogimmicks nur umso mühsamer werden. In einem Wort sind Tracks wie der obige, Lovely Rita oder Getting Better kindisch. Jeder Tiefe beraubt, dafür angefüllt mit textlichen Nichtigkeiten und einer musikalischen Basis, die nur dem Advokaten ewiger Einfachheit, Ringo Starr, wirklich gefallen konnte. Dass er wahnsinnig elaboriert arrangieren (lassen) kann, beweist immerhin noch She's Leaving Home, dessen großartiger Streichersatz im Besten an Eleanor Rigby erinnert. Doch selbst hier fehlt der emotionale Eindruck für mehr als imposantes Gewand. Womit er effektiv auf den beiden Titeltracks, insbesondere dem funkigen zweiten, und seinem Beitrag zu A Day In The Life sitzen bleibt.
Andere tun anders und werden dadurch wertvoller. Sogar Ringo, dessen With A Little Help From My Friends zwar gegen Joe Cockers Version erblasst, aber durch das Duett mit den Backing Vocals, den altbekannt stampfenden Beat und das lockere Piano-Geklimper rund um den Rock-Korpus eine entwaffnend natürliche und unschuldige Qualität bekommt, die sich die LP sonst nie leisten will. Natürlich auch George Harrison, der mit Within You Without You vielleicht nicht das beste Argument für seine Songwriter-Stärken auspackt, gleichzeitig aber einen hypnotisierenden, wahnsinnig stark arrangierten und instrumentierten Ausflug nach Indien macht und damit in die Welt spiritueller Transzendenz geleitet. Textlich ist das abenteuerlich, gesanglich und vor allem musikalisch wird mit der reibungslosen Vermählung von George Martins fragilen Streicherparts und der traditionell indischen Instrumentierung rund um das dröhnende Tambura-Trio aber der eindrucksvollste Baustein des Albums gelegt.
Lennon arbeitet effektiv weniger am Eindrucksvollen, lässt aber Kritik doch wieder schwer werden, weil alle von ihm gesungenen Beiträge wirken, als wären sie schlicht musikalische Manifestationen seiner Antipathie gegenüber McCartneys Konzept. Good Morning Good Morning und Being For The Benefit Of Mr. Kite! stehen da als Songs, die ganz bewusst jede Ernsthaftigkeit scheuen und damit ein wenig den Mittelfinger gen Band und vorsorglich auch gegen die Kritiker richten. Der eine mit seinem chaotischen Refrain und der grenzwertig unharmonischen Soundkombi, die die Bläser jeder hymnischen Qualität beraubt, dafür im Solo die Gitarren sprechen lässt und so zu einer herrlich unhörbaren Pop-Rock-Übung wird, die die melodische Nichtigkeit zu ihrem Vorteil nutzt. Der andere mit Bass-Fundament, aber eben auch dem Hang zur selbsterwählten Clownerie, die so weit geht, dass Henry, the horse mittendrin Klänge zwischen Ringelspiel und Walzer erdulden muss. Irgendwie Geniestreich, vielleicht aber doch nur Drogenrausch. Apropos, Lucy In The Sky With Diamonds. Jetzt ist das simpel und überproduziert und doch die glorreichste Vorstellung der LP, schlicht und einfach, weil der mitsamt seines durchgeknallten Vorbaus und des wenig grazilen Drumstampfens unwiderstehliche Refrain zu den besten der Band zählt, weil Lennon seine Produktionsexperimente weit eher für charakterstarke Sound- und Stimmmanipulationen nutzt als für schlichte Extravaganz und weil Metaphern noch nie so unumwunden vertrottelt gewählt wurden. Ein Hoch darauf, dafür nieder mit der Drogensuche im Titel.
Wo lässt uns all das zurück? Bei frenetischem Jubel zur Jubiläumsfeier und sprachlichen Verbeugungen zum 50er? Bei abschätziger Ernüchterung? Nein. Und verdammt, nein! "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band" ist genauso sehr eine Verirrung der Fab-Four-Ambitionen, wie es die eindrucksvolle Verwirklichung verspielter Vorstellungen von Studioaufnahmen ist. Es ist genauso sehr ein musikalisches Versteckspiel hinter den aufwändigsten zur damaligen Zeit vorstellbaren Fassaden, wie es ein sporadischer Beweis für die Genialität dieses Quartetts oder zumindest einzelner Mitglieder ist. Es ist auch genauso sehr der Sieg von Paul McCartneys Suche nach der Musik neben der Musik und also im Studio über den damals komplett richtungslosen Wunsch der anderen, weiterhin gleichberechtigt einen Weg zu gehen, wie es ein Mahnmal für die Überhöhung produktionstechnischer Finessen ist. Und es ist genauso sehr der Höhepunkt von etwas, das als Superstartum nicht im Geringsten ausreichend eingefangen wird, wie es der noch nicht zu erahnende Anfang vom Ende für die bedeutendste Pop-Band aller Zeiten ist.