von Mathias Haden, 25.08.2017
Nicht das allüberstrahlende Meisterwerk, nur die Krone der Pop-Schöpfung.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis das offiziell beste und wichtigste Musikalbum der Geschichte Einzug bei uns halten konnte. Denn in einem sind sich die Kritiker zumeist höchst einig: kein anderes Album hat die Pop-Musik, ihre Möglichkeiten und Wirkung so sehr geprägt, wie das 1966 veröffentlichte Pet Sounds. Man könnte jetzt selbstverständlich noch ein paar Schritte zurückgehen und jene LPs auflisten, die Brian Wilson dazu inspirierten und anstachelten, überhaupt erst zu solchen Höchstleistungen aufzulaufen. Bleiben wir aber lieber bei den Beach Boys anno 1966, in einem der größten Umbruchjahre der Pop-Geschichte. Wie jede kitschige Hollywood-Story wurde auch Pet Sounds am Anfang zumindest in der Heimat missverstanden, zu nachdenklich und bedrückend waren den Amis die melancholischen Melodien und das introspektive Songwriting, die sich schon auf den vorangegangenen Alben abgezeichnet hatte und denen hier in Reinform gefrönt wird.
Im UK fiel die Rezeption wärmer aus, hatte man sich mit den Millionenverkäufen der Beatles und deren voranschreitender Entwicklung wohl schon eher an die im Wandel befindlichen Pop-Paradigmen akklimatisiert. War demnach auch offen für einige der schönsten Song-Perlen, die das 20. Jahrhundert für uns bereithalten sollte. Man kennt ja die wiederholt geäußerten Lobpreisungen Paul McCartneys, der God Only Knows für einen oder sogar den besten Song aller Zeiten hält. Und man kann es ihm nicht übel nehmen, denn Brian Wilsons unsterblich vergängliche Hymne, mitverfasst vom Texter Tony Asher und gesungen von Bruder Carl, ist tatsächlich einer der absolut schönsten Liebessongs, die je geschrieben wurden. Das fängt im Prinzip dort an, wo alle großen Beach Boys-Stücke beginnen, nämlich bei den unvergleichlichen Harmonien, führt über Wilsons zu der Zeit noch avantgardistischen Kompositionstechniken, die God Only Knows den üblichen Strukturen entheben und endet schließlich bei Ashers famosem Text, der den Hörer mit der einleitenden Zeile "I may not always love you..." noch irritiert, mit "...but as long as there are stars above you" aber zum klassischen Liebeslied zurückfindet.
Da das Album als Medium im Jahr 1966 - zumindest im Pop- und Rock-Bereich - bereits deutlich etablierter war, als noch zu Zeiten, in denen LPs lediglich eine zusätzliche Einnahmequelle versprachen und mit Füllern rund um die ohnehin als Single veröffentlichten Hits gespickt waren und Brian Wilson ohnehin eine private Fehde mit den Beatles austrug, das genialste Studioalbum aller Zeiten aufzunehmen, finden sich auf Pet Sounds auch weitere Stücke oberster Güte. Unvergessen sind neben besagtem God Only Knows vor allem die beiden Singles der LP, Sloop John B und Wouldn't It Be Nice. Während Letztere als Albumeröffnung und multiinstrumental nostalgische Reise durch Welten unterschiedlicher Tempi, Stimmungen und Einflüssen klassischer Musik beinahe so frenetisch gefeiert wird, wie seine B-Seite God Only Knows, gestaltet sich der Sachverhalt bei Ersterer schon etwas anders. Als Trunkenbold-mit-Heimweh-Cover-Version des traditionellen Folk-Songs wirkt Sloop John B inmitten emotionaler Mitteilungsbedürftigkeit ein wenig wie auf verlorenem Posten, doch ist die Divergenz der Urteile, welche diese Adaption der Beach Boys zwischen den besten und schlechtesten Songs aller Zeiten verortet, keineswegs nachvollziehbar. Passend platziert als letzter Track der A-Seite, entwickelt das Stück zu dem üblichen Arsenal an Instrumenten (12-String Guitar, Tamburin, Orgel, Flöten, etc.) und den zauberhaften Harmonie-Gesängen einen Sog, der auch deshalb so absorbierend ist, weil Carol Kayes Bass alleine schon das Anschaffungsgeld der 45 wert ist.
Wirkliche Schwachpunkte gibt es auf Pet Sounds, so aufgesetzt das bei dem Album auch klingen mag, tatsächlich keine, denn sogar die beiden Instrumentals Let's Go Away For Awhile und der exotische Titeltrack fügen sich mit ihren eigenwilligen Stimmungen und Instrumentierungen zwischen barocker Pracht und Coca Cola-Dosen-Geklimper dramaturgisch hervorragend in den Gesamtkontext ein, stören den natürlichen Fluss kein bisschen. Stattdessen liefern die Wilson-Brüder, Bruce Johnston, Mike Love und Al Jardine weiterhin Highlight um Highlight, sodass auch die zweite LP-Hälfte von Hits nur berstet. Ein simpler Verweis auf unvergängliche Kapazunder wie das wehmütige Caroline No, die manisch vielschichtige LSD-Warnung I Know There's An Answer oder Brian Wilsons ultimative Erkenntnis I Just Wasn't Made For These Times sei hier verziehen, um den Rahmen nicht zu sprengen. Im Endeffekt fiele der Jubel immer laut aus, abgesehen von minimalen Abzügen bei den Instrumentalstücken oder dem von Love und B. Wilson vorgetragenen That's Not Me, das trotz Kirchenorgel und Percussions noch klanglichen Spielraum nach oben vorfindet. Kritik auf allerhöchstem Niveau mithin.
Denn Pet Sounds, das immerhin elfte Studioalbum der Beach Boys, ist das Paradebeispiel einer LP, die man aufgrund seiner makellosen Reputation und aus der Distanz einer wiederholt in die Ferne rückenden Erinnerung gerne immer wieder ein wenig unterschätzt, nur um bei jedem einzelnen Durchlauf aufs Neue umgehauen zu werden. Die Songs sind exzellent, Sound, Produktion, Arrangements top notch und die Beach Boys, allen voran Brian Wilson in Hochform. Mehr kann man zu dem Album eigentlich nicht sagen. Gerne hätte ich dem Album neun an dieser Stelle fast lächerlich anmutende Punkte gegeben, um es sorgfältig neben Rubber Soul und Revolver der Beatles einzureihen - das kann ich aber nicht, weil s.o. Pet Sounds mag vielleicht nicht ganz das perfekte, alles überstrahlende Meisterwerk in einem höchsteigenen Kosmos sein, als das es gerne dargestellt wird, aber letzten Endes doch zumindest die Krone der Pop-Schöpfung und die Blaupause für eigentlich eh alles, was danach, davor und in sämtlichen Paralleluniversen der Musik passiert ist.