von Mathias Haden & Kristoffer Leitgeb, 06.02.2014
Zahlreiche Ideen und mangelhafte Umsetzung - die ambitionierte fünfte LP der Kanadier wird zum Trauerspiel.
Mittlerweile fünfzehn Jahre im Geschäft, zählen die Kanadier zu den gestandenen Kindern der 90er-Punkwelle. Nachdem man sich bis zum dritten Longplayer Chuck stetig verbessert hatte, folgte mit Underclass Hero ein übermäßig poppig gehaltener Stilbruch vom düsteren Melodic-Hardcore des Vorgängers bis hin zu...naja, Pop. Mit dem nunmehr fünften Album sollten die nicht gerade begeisterten Fans (so schlecht war es nun auch nicht) wieder versöhnt werden. Frontmann (und erneuter Produzent) Deryck Whibleys gescheiterte Ehe mit Popstar Avril Lavigne dürfte nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass es hier sogar noch eine Ecke finsterer und vor allem persönlicher zugeht als noch auf dem Magnum Opus der Band.
So gestaltet sich Screaming Bloody Murder zu einem wahren Höllenritt durch die entrückte Gefühlswelt Whibleys. Was dem Vorgänger an Wut und Power gefehlt hat, wird hier eindrucksvoll nachgeliefert. Damit kann man auch die Spekulationen, der Band hätte es nach dem Abgang von Gitarrist Dave Baksh am letzten Longplayer schlicht an Durchschlagskraft gefehlt, ad acta legen. Denn auch ohne zweiten Gitarristen schaffen es Whibley, McCaslin und Jocz die Härte zurückzubringen, die dem Vorgänger gefehlt hat.
Als wiedererstarkte Hybridband zwischen Punk und Metalriffs rockt sich das Trio durch die Tracklist, besonders auf der Perle der LP, Jessica Kill, die mit ihren aggressiven Refrains und Whibleys stärkstem Auftritt seit langem an die besten Zeiten der Band erinnert, und dem Titeltrack kommt die Energie gut rüber.
Aber auch die wütendsten Gitarren und die kraftvollsten Drums können das größte Manko nicht verbergen: Die Songs. Obwohl sie oft von interessanten Ideen zehren, sind die meisten ziemlich zerfahren, bewegen sich in verschiedene Richtungen und wollen zu viel zur selben Zeit. What Am I To Say wirkt wie ein lausiger Versuch, einen Rocksong und eine Ballade unter denselben Hut zu bekommen und liefert als Ergebnis eine mühsame 'Rocklade', die bestenfalls wie ein verworfenes Outtake aus Green Days American Idiot klingt. Noch schlimmer wird es nur noch mit dem 12 minütigen Epos A Dark Road Out Of Hell, das in drei unabhängige Teile gespalten wurde und mit seinen merkwürdigen, teils viel zu unterschiedlichen musikalischen Facetten niemals in Fahrt kommt. So verhält es sich auch mit dem Rest der Platte, schon Opener Reason To Believe startet mit seinen wuchtigen Drums und den kraftvollen Gitarren furios, nur um kurz darauf in eine träge Schnulzballade zu münden. Und des banalen Closers Exit Song bedarf es keiner Worte.
Sum 41 mögen mit ihrem fünften Album die infantilen Zeiten von Fat Lip nun endgültig hinter sich gelassen haben. Aber auch wenn man stilistisch wieder an bessere Zeiten anknüpfen konnte, liefern die Kanadier hier ihr brüchigstes Werk ab. Egal wie gut ein Track beginnt, im nächsten Augenblick läuft er schon wieder in die entgegengesetzte Richtung und sich schließlich endgültig fest. An den Ideen scheint es scheinbar nicht zu hapern, trotzdem kann man hier bis auf wenige Ausnahmen nicht zufrieden sein. Hier wollte man einfach zu vielen verschiedenen Vorstellungen nachgehen, ohne eine einzige (Jessica Kill mal ausgenommen) auch wirklich zu einem anständigen Abschluss zu bringen.
M-Rating: 3.5 / 10
Whibley schießt in alle Richtungen und trifft dabei öfter ins Schwarze als erwartet.
Ach herrje, wo soll ich da nur anfangen? Richtig observiert hat er ja, mein Kollege, aber die falschen Schlüsse daraus gezogen. Denn mit ihrer von Depression und Wut zerfressenen Rückkehr aus den Pop-Unwelten von "Underclass Hero" wecken die Kanadier endlich wieder ihre alten Stärken auf. Dass das nicht ohne ein gerüttelt Maß an ab und an ziemlich deplatziertem Pathos einhergeht, musste man erwarten und kann man irgendwie auch verschmerzen.
Denn öfter, als erwartet, kommen einem harte Riffs, noch härtere Drums und mehr als ernste Lyrics entgegen. Das kann selten so exorbitant gut funktionieren, wie das bei Punk in Reinkultur, namentlich Jessica Kill, passiert ist. Dass die Jungs aber mehr als nur die zwei außerordentlich guten Minuten haben, ist offensichtlich. Back, Where I Belong und die großartige Hard-Rock-Nummer Blood In My Eyes bestechen durch die starke Arbeit von Whibley und erinnern im Besten an den 2004er-Output "Chuck". Vor allem letztere beweist, dass Whibley durchaus dazu in der Lage ist, seine Ideen doch alle in einen Song zu packen. Wenn nämlich nach einem genialen Gitarren-Intro nicht nur starker Text hinterherkommt, sondern auch die Tempo-Brüche hin zur langsamen zweiten Strophe und der starken Bridge funktionieren, dann stimmt schon sehr viel. Ähnlich gut auch Reason To Believe, dessen ruhiges Klavier-Outro besser als gedacht funktioniert, oder Sick Of Everyone, das mit seiner schrägen Piano-Strophe einen guten Kontrast zum lauten Refrain bietet.
Dass bei gefühlten 200 Ideen in 14 Songs nicht alles glänzend endet, ist dann aber doch wahr. Den Exit Song kann man da tatsächlich als Zumutung herausfiltern und What Am I To Say oder Time For You To Go sind auch gerade einmal lauwarme Versuche eine Power-Ballade und einen Garage Rock-Track - überraschenderweise überzeugt Baby, You Don't Wanna Know als solcher - einzubauen.
Vielleicht kann das angesprochene Epos A Dark Road Out Of Hell da als gute Zusammenfassung herhalten. Mit seinen cirka 15 verschiedenen Teilen in gerade 12 Minuten wird hier alles geboten, was man auf dem Album gesamt auch finden kann. Und die Ausbeute schaut auch ähnlich aus. Teil 1, Holy Image Of Lies, wirkt mit seinen ständigen Tempowechseln permanent episch, aber eben auch ziemlich störrisch, Sick Of Everyone gerät dafür beinahe schon 'straight-forward' und wird so zum perfekten Beispiel für die starken Depressions-Comebacks, die sich hier finden lassen, und das Finale Happiness Machine reiht sich irgendwo dazwischen ein, ist mit dem teilweise zu spärlich instrumentierten Beginn nicht jedermanns Sache, kann aber trotzdem Stimmung aufbauen.
Zugegeben, "Screaming Bloody Murder" ist von fehlerfrei so weit entfernt wie Österreich vom Weltmacht-Status, es überzeugt aber sowohl als Blick zurück wie als willkommene Weiterentwicklung. Whibley will nämlich konstant zu viel, kann das aber wenigstens mit seinen verbesserten Writing-Skills kompensieren, bringt zudem die Härte der alten "Chuck"-Tage zurück. Mit all seinen Windungen ist die fünfte LP der Band sicher nicht leicht zu schlucken, sie zeigt Sum 41 aber so ernst und so kreativ wie nie, wenn auch lange nicht so treffsicher wie in ihren besten Tagen.
K-Rating: 7.5 / 10