von Kristoffer Leitgeb, 30.08.2020
Die schwierige Suche nach dem eigenen Charakter auf dem abflauenden Pop-Punk-Tsunami.
Als Kind der 90er, das irgendwann einmal um die Jahrtausendwende erstmals eine Schule von innen sehen durfte und einer entsprechenden musikalischen Sozialisierung unterzogen wurde, ist mir naturgemäß eine ungesund hohe Zahl an Vertretern der damaligen Pop-Punk-Hochphase bekannt. Nicht nur das, die dem jugendlichen Publikum zuarbeitenden Herren der Schöpfung, die das Genre damals zu großem Erfolg geführt haben, haben durchaus markante Spuren hinterlassen und zum Teil lange Spitzenplätze in der eigenen Beliebtheitsskala eingenommen. Also jetzt weniger solche Kasperl wie die von NOFX, aber doch die Kasperl von blink-182, Green Day oder The Offspring. Aber wie in jeder guten Beziehung kommt der Zeitpunkt, an dem man einmal genauer hinsieht und -hört und sich so seine Gedanken macht, an eine Scheidung oder ein Auswandern nach Mexiko denkt, sodass, wenn denn überhaupt, nur mehr die südkalifornischen Halbpensionisten von The Offspring noch von sich behaupten dürfen, bei mir wirklich gut wegzukommen und eine Armada an Songfavoriten platzieren zu können. Auch Sum 41 gehörten und gehören in diese Liste und sind doch ein Unikat, nicht nur wegen ihrer kanadischen Herkunft, sondern auch wegen der Tatsache, dass sie nicht im schnöden Pop-Punk, sondern erst mit ernsterer Härte ihre guten Seiten entdeckt und danach zur Genüge zelebriert haben. Das bedeutet, dass die Band ungewöhnlicherweise für Genrevertreter bis heute verdammt überzeugendes Material raushauen kann, aber auch dass die Anfänge bescheidener waren, als es der Erfolg nahelegen könnte.
Dennoch sollten diese ersten Schritte im Longplayer-Format die kommerziell erfolgreichsten sein und "All Killer No Filler" als Debütalbum ein ziemlich explosiver Durchbruch werden, der mit Fat Lip auch gleich eine langlebige Hitsingle mitbrachte. Das Album wurde trotz verhaltener Reaktionen alsbald zum Genreklassiker, während die Band sich zuerst ihren Vorlieben für Melodic Hardcore und Metal, dann dem musikalischen und persönlichen Verfall von Frontmann Deryck Whibley und schließlich einer komplett unbeachteten künstlerischen Wiederauferstehung widmete. Da ist es nicht schwer, dass die Erinnerungen an die Kanadier hauptsächlich von dieser LP und ihrer allseits bekannten Leadsingle getragen werden.
Schade ist es dennoch, weil sich das Debüt der Band in aller Schnelle vor allem als eines herausstellt, nämlich als das Abwandern altbekannter Pfade. Jerry Finn am Mischpult bedeutet eine gute Wahl, will man glatten, hellen Sound, ein paar lockere Nummern und Fokus auf die Vocal Hook. Und es ist ja nun nicht so, als wüsste Finn nicht, was er da tut. Einer, der damit von Green Day bis blink-182 fast alle entscheidend geformt hat, schafft das auch bei Sum 41. Problematisch ist das nur deswegen, weil unter Finns Produktion ein bisschen gar viel des eigenen Charakters der Band verloren geht und stattdessen ein Haufen Songs überbleiben, die dem Genre-Credo der unbeschwerten, mit hoher Drehzahl zum Besten gegebenen Power-Chord-Kanonade so sehr entsprechen, dass man sie nicht mehr so wirklich von den Vorgängern unterscheiden kann. Anders ausgedrückt, könnten Songs wie Never Wake Up, Rhythms, Crazy Amanda Bunkface oder Nothing On My Back auch genauso gut von "Dookie", "Enema Of The State" oder "Americana" stammen, nur dass sie dort definitiv auf der blasseren Seite der Tracklist landen würden.
Natürlich ist das eine etwas müßige Feststellung, weil der Pop-Punk an der vordersten Front für nichts eher bekannt wäre als für die Ähnlichkeit seiner prominentesten Vertreter und die überschaubare stilistische Bandbreite. Insofern sei es jedem und auch Deryck Whibley sowie seinen Bandkollegen verziehen, dass die Unterscheidungsmöglichkeiten begrenzt sind. Daran liegt es aber auch nicht, dass die LP durchgehend etwas mau anmutet. Die Krux der obigen Feststellung ist nämlich, dass die genannten Songs eben alle relativ blass wirken verglichen mit dem, was schon da ist. Never Wake Up oder Rhythms hören sich schon ganz locker, galoppieren ungestüm drauflos und kommen mit der gewohnt eingängigen Hook daher, aber sie sind ihres glatten Sounds und der selbst für dieses Genre verdammt unspezifischen Texte nicht dazu geeignet einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Damit verbunden ist auch das ziemlich unvermeidliche Urteil, dass "All Killer No Filler" zwar kurzweiligen Spaß anzubieten hat, aber absolut nicht an Emotion, Atmosphäre oder kluger Zeilen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass mit Handle This der einzige Song, der sich als so etwas wie eine Power-Ballade klassifizieren lässt, verdammt nach pflichtschuldiger Übung klingt und sich mit seinem schleppenden, schwergewichtigen und doch glatt polierten Refrain komplett verzettelt.
Nachdem nun ausreichend darüber hergezogen wurde, wie uninteressant und eindimensional dieses Album sein kann, wird es nun Zeit für einen Blick auf die andere Seite der Medaille. Auf dieser findet man die ersten drei Singles, die die Band - oder das Label... - herausgepickt hat. Fat Lip, Motivation und In Too Deep sind definitive Lichtblicke inmitten einer zu oft sehr durchschnittlichen LP. Wenig überraschend ist es die Leadsingle, die in ihrer hingerotzten, etwas härteren und halb gerappten Art den besten Eindruck hinterlässt, die stärkste Hook vor sich herträgt und am ehesten den eigenen Charakter verkörpert, den man sich öfter wünschen würde. Die offensichtlichen Einflüsse aus härteren musikalischen Ecken nehmen da den gewinnenderen Nachfolger "Does This Look Infected?" vorweg. Der Wechsel aus High-Speed-Refrain hier, dem mehrstimmigen, abgehackten Rap da, locker-hellen Riffs hier, abgehackt-kratziger Gitarrenarbeit da und sogar einer fast parodistisch anmutenden, ruhig gezupften Bridge sorgt derweil für die nötige Dynamik. In Too Deep und vor allem Motivation sind im Vergleich dazu straighter, überzeugen aber mit ihren kaum aus dem Gedächtnis zu bringenden Hooks und den starken Auftritten von Gitarrist Dave Baksh. Abgeschlossen wird dieses knackige Hoch zur Albummitte dann noch von blink-Gedenktrack Summer, dem hauptsächlich sein unermüdlich hohes Tempo und der unwiderstehliche mehrstimmige Refrain zu einem überzeugenden Eindruck verhelfen.
Das ist dann aber auch schon wieder genug des beinahe überschwänglichen Lobes für ein Album, das ultimativ einfach verdammt durchschnittlich geraten ist. Ja, "All Killer No Filler" hat seine positiven Ausreißer, auf die gerne verwiesen werden darf. Dem gegenüber steht allerdings dann doch das eigentlich im Titel negierte Fillermaterial. Das äußert sich zwar wirklich negativ nur in einem unbeholfen miserablen Balladenversuch und einer finalen, komplett entbehrlichen Hommage an Iron Maiden, die zwar spätere Härte aber netterweise absolut nicht deren Ausrichtung vorwegnimmt, alles in allem ist die Ausbeute aber überschaubar. Letztlich klingt die Band hier noch zu sehr wie etwas, was sie in ihren allerersten gemeinsamen Tagen - damals noch in anderer Besetzung - wirklich war, nämlich eine Coverband. Wohl auch wegen Jerry Finns maßgeblicher Beteiligung ist die Nähe zu diversen großen Namen des Pop-Punk so deutlich, dass man mitunter glaubt, eher ebendenen zuzuhören. Und so wirkt all das hier spätestens dann blass, wenn man den Blick auf spätere Alben von Sum 41 wirft, die mit weit mehr Charakter, weit mehr Inhalt und Emotion punkten konnten, auch wenn das über die folgenden beiden Jahrzehnte definitiv kein Dauerzustand war. "All Killer No Filler" ist der Anfang von all dem, aber irgendwie nur sehr bedingt Teil dessen, was die Kanadier dann tatsächlich ausgemacht und zwischenzeitlich unglaublich überzeugend gemacht hat.