von Kristoffer Leitgeb, 12.09.2018
Annie Clark, Großmeisterin anstrengend prätentiöser Kreativitätsexplosionen.
Hinter diesem Review steht schon vor dem ersten geschriebenen Wort ein schwierige Vorgeschichte. Weil das reviewte Album irgendwann einmal - bei genauerer Überlegung ziemlich kurz nach Erscheinen - aus Interesse an dieser ominösen, weithin gefeierten Dame auf dem Cover angehört und für ziemlich stark befunden wurde, gleichzeitig aber nach kürzester Zeit nie wieder auch nur das kleinste Verlangen aufgekommen wäre, sich die schwierigen Kompositionen auf der LP zu Gemüte zu führen. Eine in Wahrheit wahrscheinlich nicht näher spezifizierbare Eigenschaft an "St. Vincent" sorgt dafür, dass sich nach anfänglichem Staunen jegliche Anziehung dieser Songs verflüchtigt. Das war soweit der Status Quo, der bei flüchtigen Gedanken an die LP ein sehr mäßiges Rating bedeuten hätte sollen. Und dann hört man es erneut an, aus reinem rezensorischen Pflichtbewusstsein und um den Forderungen eines gewissen Ex-Maniacs nachzukommen, und kommt doch wieder um ein eindeutig uneindeutiges Urteil herum: Annie Clark ist anstrengend, aber souveräne Herrin über Art Rock und Pop wie kaum eine Zweite.
Dieser Umstand war zu dem Zeitpunkt, als "St. Vincent" veröffentlicht wurde, für die musikalisch interessierte Öffentlichkeit kein wirkliches Geheimnis, aber man darf es ruhig trotzdem herausheben. Die fünfte LP der US-Amerikanerin ist nun, sicherlich auch bedingt durch die Arbeit mit David Byrne für Vorgänger "Love This Giant", vom ehemaligen Mastermind der Talking Heads in so mancher Hinsicht beeinflusst. Poppige Lebensfreude ist da herauszuhören inmitten diverser, reichlich schräger Exkurse in die Welt der sozialen Medien oder dem amerikanischen Alltag. Gleichzeitig gelingt Clark der beneidenswerte Spagat, den Sound so sehr zu fokussieren wie nie zuvor, trotzdem aber ihre wohl verschrobenste und surrealste LP zu kreieren. Die zwölf Tracks breiten sich auf weiten musikalischen Feldern aus, klingen mal wie die esoterischsten 90er-Ausritte von Madonna in Richtung Trip-Hop, dann wieder wie elektronisch verzierter Stoner Rock oder aber wie lebhaft pulsierender Funk-Pop mit dezentem Post-Punk-Einschlag, der eben auch aus Byrnes Feder stammen könnte.
Das mutet nicht nur in der Beschreibung, sondern auch beim Anhören grotesk an und hat eine beinahe überfordernde Komponente. Bei Zeiten hat man die extravagante Eigenartigkeit mancher Songs noch nicht ganz kognitiv verarbeitet, da neigt sich die Laufzeit schon dem Ende zu. Am wenigsten hat man mit solcherlei zu kämpfen, wenn das Tempo hoch gehalten wird und sich Clark auf ihre anziehenden Hooks konzentriert. Für den passenden ersten Eindruck beginnt sie auch gleich damit und setzt einem mit Rattlesnake einen Track mit unwirklicher Aura vor, für die nicht nur der schräge Text rund um Clarks Wüstenspaziergang verantwortlich ist. Die trippy Elektronik und die schön gemütlich zwischen Trip-Hop und Breakbeat platzierten Drums, die plötzlich einsetzenden, komplett verzerrten Riffs und Clarks mitunter synthetisch nach oben geschraubte, nachhallende Serenade sorgen für ein groteskes Gesamtkunstwerk. Dem zu Grunde liegt allerdings eine großartige Melodie, die in einem schwer zu widerstehenden Refrain kulminiert. Gleiches Rezept, dezent andere Gangart: Birth In Reverse, Digital Witness, Bring Me Your Loves. Mit störrischen, abgehackten Beats als Fundament tobt sich die Multiinstrumentalistin am ersten ausgiebigst an ihrer Gitarre aus und entlässt nicht nur einen überzeugenden Riff in die Welt, sondern gewinnt vor allem durch die dröhnende Dichte, die sie durch die Verzerrungen und Klangmanipulationen erreicht. Das Ergebnis ist feinster Noise Pop. Digital Witness widersetzt sich einer Einordnung allein schon dadurch, dass der Song durch den markanten Bläsersatz zwar durchaus lautstark, aber eben doch ziemlich spärlich ausgefüllt sind; daran ändert auch das 80er-Synthie-Gewitter im Refrain nichts. Und Bring Me Your Loves? Naja, das ist Chaos. Beeindruckendes, verdammt rhythmisches Chaos. Vordergründig duelliert sich in dem Track alles mit allem, konkurrieren Military Drums, dissonante Synths, diverse Elektroniksounds und unvermittelt eingestreute Riffs um den Platz im Rampenlicht, den sich Clark aber stimmlich selbst sichert. Nicht durch große Auffälligkeit, sondern mit der für sie charakteristischen Mischung aus unmelodischem Sprechgesang und zwischen den Tonhöhen herumschwimmenden langgezogenen, teilverzerrten Noten. Insgesamt ergibt das genauso verwirrenden wie begeisternden Psychedelic-Elektronik-Pop, der wie eine hyperaktive Version eines Tracks von Animal Collective klingt.
Es gibt allerdings doch die andere Seite und die bedeutet, dass sich die bizarre Form, die Clarks Musik mitunter annimmt, nicht wirklich mit emotionsbeladenen Performances oder gesetzter Dramatik verträgt. Da wird es sehr schnell ziemlich anstrengend. Die gespenstisch-pastoralen Synthschwaden, die Prince Johnny dominieren, vertragen sich wenig mit den lichten Höhen, in die gesanglich abgewandert wird, ähnlich wenig auch mit der verhältnismäßig ausdruckslosen "Normalität", die die Strophen bieten. Rein klanglich steht eine Ballade wie I Prefer Your Love weit über so etwas. Majestätisch und gleichermaßen gefühlvoll gesungen, stören allerdings die unnötigen Gesangsfetzen, die den Hintergrund auffüllen oder aber halb gehaucht wirkungslos verhallen. Dass im gleichen Atemzug die Musik eine eher lethargische Trägheit vermittelt und Clark alles dem schwer zu verdauenden Satz "I prefer your love to Jesus" unterordnet, lässt den Track dann definitiv abstürzen.
Eine wirklich starke Ballade gelingt ihr dann auch nicht, so sehr man dem theatralischen Abschluss Severed Crossed Fingers auch die makellose Machart zugestehen muss. Fehlerfrei oder nicht, stilistisch wirkt das nicht wie gemacht für die Singer-Songwriterin mit dem ausgefallenen Charme. Das vom Jazz durchzogene Huey Newton gefällt in dieser Hinsicht besser, wenn auch weniger durch die an Kimbra erinnernde erste Hälfte, sondern eher wegen des Distortion-Gewitters in der zweiten. Auf der anderen Seite steht verspielter, elektronischer Minimalismus in der Form von Every Tear Disappears, dessen kalte, kantige Art, gepaart mit der lebendigen Rhythmik das Musterbeispiel eines "St. Vincent"-Tracks darstellt.
Mit diesem im Hinterkopf kann man sich vor St. Vincent dann doch wieder nur verneigen. Nicht gleich bis zum Boden, dafür sammeln sich zu viele Tracks an, die ihr nicht gut zu Gesicht stehen oder deren Exzentrik weniger wie eine kreatives Erwachen, sondern eher wie aufgeblasene Selbstdarstellung wirken. Das ist allerdings eine Seltenheit, die verblasst, vergleicht man sie mit den vielen Minuten, die eine äußerst starke Vermählung musikalischer Experimentierfreude und Vielseitigkeit mit der extravaganten Vitalität und Dynamik bieten. Daraus ergeben sich umtriebige Songs, die zwischen wirrem Chaos, mutigen Genresprüngen, schräger Atmosphärik und einer unbeschwerten Theatralik oszillieren. Das beschreibt "St. Vincent" nicht wirklich ausreichend, wobei der Facettenreichtum des Album auch kaum in einen einigermaßen überschaubaren Text eingebettet werden könnte. Ganz abgesehen davon, dass es einem die der Wirklichkeit entrückte Aura so ziemlich jedes Songs und Clarks offenkundige Hyper-Selbstsicherheit schwer machen, die elf Songs tatsächlich gern zu hören oder sie zu mögen. Viel eher ist es eine LP zum Bestaunen, zum bis ins kleinste Detail analysieren und zum sich Verwirren lassen. Das schaffen in einer so souverän exekutierten Form nur ganz wenige.