Various Artists - A Clockwork Orange

 

A Clockwork Orange

 

Various Artists

Veröffentlichungsdatum: ??.??.1972

 

Rating: 9 / 10

von Kristoffer Leitgeb, 21.08.2017


Kubrick hat den Inbegriff des Terrors gefunden: Romantische Klassik und surreale Synthesizer.

 

Selbst mit gebührender Distanz zu Stanley Kubricks Schaffen - vielleicht genau die Art der Betrachtung, die er sich gewünscht hätte -, kann und muss man über die Arbeit des US-Amerikaners sagen, dass sie eigentlich immer einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat, wenn er das so wollte. Die Eindrücke waren nur über die Jahre höchst unterschiedliche. "2001: A Space Odyssey", da war es der des visuellen Parade-Perfektionisten ohne Interesse an Handlung oder Charakteren; bei "Barry Lyndon" kam die Vorliebe für Emotion ohne Emotion zum Tragen, die für eine rundum eindringliche Geschichte gesorgt hat; bei "The Shining", naja, auf alle Fälle Jack Nicholson. "A Clockwork Orange" dagegen, das ist Terror, das ist Beklemmung, das ist bewusste Verrohung. Und es brennt sich ein. Was nicht möglich wäre, hätte Kubrick nicht auch die Musik unter die Herrschaft seines Perfektionismus gestellt und damit für ein unwirkliches Schauspiel des Unbehagens gesorgt.

 

Integraler Protagonist dessen ist Synthesizer-Pionier Walter Carlos - Jahre später zu Wendy Carlos verwandelt und damit auch auf dem Feld revolutionär -, der dem klassischen Rumpf des Soundtracks von jeglicher Natürlichkeit befreite Elektronikstücke entgegensetzt. Häufig Eigeninterpretationen der ansonsten orchestralen Arbeiten von Beethoven oder Rossini, sind Carlos' Synth-Monstrositäten einer, wenn nicht der wichtigste musikalische Baustein der jeglichem Wohlgefühl entrückten Atmosphäre des Films und der dazugehörigen LP. Gerade die baut auf auf der vom ersten Ton an erschreckenden Title Music, die Henry Purcells Music For The Funeral Of Queen Mary bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, daraus ein Intro in die unwirtliche Gedankenwelt des Alex DeLarge macht. Gleichermaßen faszinierend wie erschreckend ist dabei sehr bald die Präzision, mit der Carlos an die Neugestaltung der klassischen Kompositionen geht. Der langgezogene March, die Entrückung des Vierten Satzes aus Beethovens Neunter, wird dabei zu einer mächtigen Demonstration der Fähigkeiten von Carlos. Zwar sind sieben Minuten dauerhafter Synthesizer-Beschallung beinahe zu viel des Guten, die vollendete Vereinigung der majestätischen, eigentlich kitschigen Übergröße der Beethoven-Kantate mit der unnatürlichen und angespannten Aura der synthetischen Instrumentierung inklusive Vocoder-Chorals sind aber die beste musikalische Umsetzung des erschreckend Bizarren, die einem auf die Schnelle einfallen kann.

Wie gravierend hier der Eingriff in die Atmosphäre der Stücke ist, wird umso deutlicher bei der Gegenüberstellung von Beethovens Zweitem Satz aus seiner 9. Sinfonie, einer seiner berühmtesten Hinterlassenschaften, und der Neufassung durch Carlos. Der grandiose, übersteigerte Beginn, den die Streicher mit ihrer anschwellenden Ekstase bei Beethoven liefern - und bei dem alle Hosen-Kenner auf ewig darauf warten werden, dass irgendwann ein verzweifelter Schrei von Campino das Schauspiel in Stücke reißt -, hat nichts gemein mit Carlos' Suicide Scherzo, dessen Harmonien und Melodien zwar ident sind, bei dem aber unweigerlich etwas verspielt Manisches mitschwingt. Alex und seine Droogs eben.

 

In diesem Sinne wäre es ein Leichtes, Carlos den ganzen Soundtrack zu überlassen und ihn damit der elektronischen Übersättigung auszuliefern. Carlos hätte das wohl ganz gern gesehen, hat sich ohnehin mit Kubrick über die Zusammenstellung des Soundtracks überworfen, einen eigenen, vermeintlich vollständigen Score veröffentlicht. Kubrick war aber intelligent genug, nicht nachzugeben und stattdessen durch die übersteigerte Eleganz und den unüberhörbaren Kitsch mancher klassischer Komposition die groteske Qualität des Films auch musikalisch einzufangen. Dass demnach Edward Elgars Pomp And Circumstances mit gleich zwei Märschen auffällt, ist zwar ob der opulenten Aufdringlichkeit vor allem des ersteren musikalisch weniger glorreich, dafür umso bezeichnender für "A Clockwork Orange" als Ganzes. Und weil höchstens Bellinis William Tell Ouvertüre lähmende Schwere vermittelt, dagegen die Auszüge aus dem Thieving Magpie und aus Beethovens Neunter nicht nur wegen der damit verbundenen Filmszenen fast jede Sekunde wert sind. Natürlich überstrahlt Beethoven dabei die "Konkurrenz", insbesondere mit dem Zweiten Satz, dessen berühmtes Scherzo mitsamt der epochalen Einleitung die Vollendung majestätischer Präzision an der Streicherfront darstellt.

 

Die Anfang der 70er weniger angestaubten Kompositionen können da nicht mithalten. Zwar mag Gene Kellys Singin' In The Rain der Unwirklichkeit des Films zuträglich sein, als Appendix am Soundtrack macht sich sein elegantes Stimmchen mitsamt süßlicher Untermalung aber gleichermaßen wohlgeformt wie befremdlich. Den Vogel in dieser Kategorie schießt allerdings die niemandem im Gedächtnis gebliebene Psychedelic-Truppe Sunforest ab, deren komödiantischer Lo-Fi-Folk in der Form von I Want To Marry A Lighthouse Keeper so überhaupt nicht hier dazu passt, dass passende Worte dafür fehlen. Mit dem mittelalterlichen Folklore-Instrumental Overture To The Sun darf die Band zwar auch sehr überzeugend in Erscheinung treten, ein fahler Beigeschmack an ihrem Part auf dem Soundtrack bleibt aber. Die Antithese dazu heißt, wie könnte es anders sein, Walter Carlos. Dem kommt Timesteps und damit eine Eigenkomposition aus, die zwar hier nur in Teilen Verwendung findet, aber auch so gleichermaßen atmosphärisch wie dynamisch daherkommt und im kurzen Proto-Techno-Stakkato genauso aufgeht wie mit den düster schimmernden Keyboard-Sequenzen, die letztlich in langgezogenen Orgel-Klängen münden.

 

Wer dem nun nichts abgewinnen kann, der schreite von dannen, er begebe sich ins Exil, suche die verdiente lebenslange Isolation (wobei die fast erstrebenswert klingt). Auf gut Wienerisch: Der soll sich eingraben! "A Clockwork Orange" ist ein verstörender Soundtrack zu einem verstörenden Film. Aber beides ist eben auch großartig. Weil ästhetisch fundamental widersprüchlich bis zu einem Punkt, an dem es zu einer emotionalen Qualität wird. Das erzwungene Aufeinandertreffen romantischer Klassik und der futuristisch-dystopischen Synthesizer-Welten von Walter Carlos ist ein Triumph, vielleicht weniger in Form seiner Einzelteile als eher durch den Eindruck des großen Ganzen. Wobei weder Carlos noch die versammelten Herren Komponisten aus dem klassischen Feld große Aussetzer hinnehmen müssen - Bellini hätte man einstampfen können -, doch mit den Beiträgen aus der musikalischen Moderne der Nachkriegszeit und dem unerbittlichen Pomp des Orchestralen sind kleinere Verwerfungen unumgänglich. Diesen zum Trotz, auch als Album ist Kubricks brutalste Stunde ein meisterlicher Klassiker.

 

P.S.: Da unten stehen die englischen Tracktitel, weil einfach nie irgendwo "Uhrwerk Orange" stehen darf. Das ist höchstens ein Zeugnis der Sperrigkeit deutscher Sprache.

 

Anspiel-Tipps:

- Title Music From A Clockwork Orange

- Ninth Symphony, Second Movement (abridged)

- March From A Clockwork Orange (Ninth Symphony, Fourth Movement - abridged)

- Timesteps (Excerpt)


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