von Kristoffer Leitgeb, 03.09.2016
So gut kann Meditation klingen.
Religion. Na, sie wissen schon, diese Sache, über die man derzeit so wunderbar entspannt reden kann. Hinter vorgehaltener Hand, in einem leeren Raum, am besten mit sich selbst und sonst niemandem. Das erspart Konflikte. Alternativ dazu kann man sich auch eine Religion suchen, die einfach niemandem irgendwas tut, und da nimmt man am besten jene, die dem Begriff eigentlich kaum gerecht wird. Weil die Buddhisten, die haben es nicht so mit den Göttern, oder dem Missionieren, oder dem Himmel und Hölle Spielchen. Deswegen Daumen nach oben für Buddha und seine Jünger. Einen zumindest, der andere will nicht wegen dem spirituellen Käse, der dort trotzdem noch gepredigt wird. Aber so ein bisschen Spiritualität kann schon auch ganz gesund sein, sofern man sie zu kanalisieren weiß. Was Martin Scorsese mit seiner Biografie über den Dalai Lama hinlänglich bewiesen hat. Allerdings nicht so sehr wie Philip Glass.
Der ist ziemlich genau seit seiner Arbeit für "Kundun" ein großer auf der Soundtrack-Bühne, mit Oscar-Nominierung und allem drum und dran. Das allein reicht dank der oftmals fast bemitleidenswert geringen Aussagekraft der Oscars nicht als Plädoyer für den dem klassischen Minimalismus Entstiegenen. Doch Glass versteht es, einen rasch davon zu überzeugen, dass es schwierig gewesen wäre, jemand besseren für diese Art Film zu finden. Der Weg des 14. Dalai Lama wird in den Händen Scorseses zu einer gleichermaßen distanzierten wie eindringlichen spirituellen Erfahrung voller meditativer Mystik. Nichts anderes verbirgt sich auch in den Stücken des Komponisten. Vielleicht bedingt es Glass' persönliche Wertschätzung für den Buddhismus und die tibetische Kultur, dass seine Arbeit oft genug eine hingebungsvolle Authentizität ausstrahlt. In den überzeugendsten Momenten prägen bedächtig-monotone Trommeln und Becken das Geschehen, diverse Bläser - am markantesten die tiefe Bassposaune und das tibetische Dungchen-Horn - besorgen die Tiefe, zurückhaltend eingesetzte Streicher imitieren Melodien eher, als dass diese wirklich stattfinden würden.
Was Glass dadurch erreicht, sind Kompositionen die selbst meditativen Charakter vermitteln. Und genau da liegt die Schwierigkeit eines einstündigen Soundtracks. Denn Meditation, das bedeutet Ruhe und eine rein kognitive Beweglichkeit. Und so sind viele dieser meist zwei bis drei Minuten langen Tracks veränderungsarm bis zu dem Punkt, an dem die Grenze zwischen Minimalismus und Monotonie verschwimmt. Das Dungchen eröffnet im Opener Sand Mandala alles und gibt mit seinen tief schwelenden, langgezogenen Tönen die Marschrichtung vor. Was folgt, ist mit dem repetitiven Gemisch aus leichten Keyboardklängen, vor Sprunghaftigkeit bewahrten Streichern und einem Metrum gleich wiederkehrender Percussion nur schwer fassbar. Auf alle Fälle nicht mit Ohren, die sich sonst an Howard Shore oder John Williams ergötzen. Doch in der systematischen Ruhe liegt eine nicht zu leugnende Kraft zwischen Hypnose und einer Reduktion, die dem Buddhismus alle Ehre macht. Manchem wird sie auch Probleme machen, umso mehr, da sich Glass nicht nur Track für Track seiner kompositorisch minimalistischen Einförmigkeit hingibt, sondern die gesamte Tracklist unüberhörbar auf ein Credo, ein Thema und eine Atmosphäre ausrichtet.
Natürlich erlaubt sich der US-Amerikaner trotzdem eine verspieltere Seite, vielleicht gar einen Hauch von spiritueller Extravaganz. Choosing wird von hell flackernden Flöten geprägt - übrigens über mehr als zwei Minuten die Wiederholung einer cirka dreisekündigen Sequenz -, die immer wieder von tiefen Dissonanzen gestört werden sollen, mal durch das Horn, dann durch Klavier oder Oboe. Norbu Plays entspricht auf ähnliche Art dem Titel, kombiniert eine kurze Klarinettenmelodie mit Synthesizer, Celeste, Xylophon und pointierter Percussion. Und Projector mutiert nach hymnischem Beginn zu einer merkwürdig romantischen, kleinen Vorstellung, die einen vielleicht eher an "Harry Potter" oder einen Disney-Film denken lassen würde.
Überwiegend bestimmt allerdings eine hymnische, meditativ angehauchte und zwischen Introvertiertheit und fast verehrendem Ton steckende Ader den Soundtrack. Und diese Ader versiegt nicht, sie enttäuscht auch nicht. Reting's Eyes, Norbulingka oder das auf sieben Minuten ausgeweitete Chinese Invade, alle fallen durch ihre relative Behäbigkeit auf, die ihnen insbesondere die schweren Blechbläser und die Percussion einflößen, gewinnen aber dadurch auch einen beeindruckenden Fokus, als würde die Musik insgeheim um einen Ruhepol kreisen und ihr ganzes atmosphärisches Gewicht daraus beziehen. Besondere Kraft erhält diese Ausstrahlung immer dann, wenn durch Obertongesang und Dungchen der Bezug zu Tibet eindringlich klar wird. Distraught vertraut auf ersteres, versammelt darum theatralische Streichermotive, die stilistisch weit in der Klassik zurückreichen. Thirteenth Dalai Lama oder Lord Chamberlain tönen eine Spur lauter und aktiver, ersteres bietet überhaupt Platz für eine prägnante Bläser/Trommel-Kombination über schimmernden Streichern, die, wäre sie nicht so kontrolliert vorgetragen, sogar leichte Züge von Hans Zimmer erkennen lassen würde.
Wirklich beeindruckend wird "Kundun" allerdings erst ganz zum Ende. Bis dahin gleicht Glass' Arbeit dem Sand Mandala, dem buddhstischen Symbol des Universums, dem bereits der Opener gewidmet ist.
Sicher nicht in dem Sinne, dass die Musik ähnlich farbenfroh wäre wie das Sandkunstwerk, doch letztlich dahingehend, dass beide von klarer Struktur, von klarem Ziel, vom personifizierten
Göttlichen als Mittelpunkt leben. Insoferne ist der Soundtrack einer, dem man den kontemplativen Charakter der dahinter stehenden Arbeit anmerkt, der aber genau das auch anregt. Keine
bombastische, überwältigende Darbietung, doch eine, die unterschwellig ihren Charakter entfaltet.
Das ist es zumindest, was man mitnimmt, bis einem Escape To India begegnet. Der Closer will stilistisch nicht ausbrechen, doch der epochale Zehnminüter fasst die vorangehenden Tracks so
ideal zusammen und bündelt sie, dass erst dadurch "Kundun" eine triumphale Note bekommt. Ein Abschluss, wie er besser kaum sein könnte, insbesondere dann, wenn Glass durch Tribal Drums beginnt,
mehr Energie in die Musik zu bringen, vermehrt dramatische Brüche setzt und einem durch Snare Drum, Dungchen und epische Choräle komplettierten Abschluss ansetzt.
Jetzt kann man über die Schwächen dieses Soundtracks referieren und würde dabei, je nach Lust und Laune, vielleicht gar nicht so schnell zu einem Ende kommen. "Kundun" funktioniert als Album nur schwer. Eine latent unbewegliche, veränderungsresistente und so langsam wie majestätisch rollende Welle ist beinahe alles, was sich einem hier offenbart. Und das macht Schwierigkeiten dahingehend, dass man sie nie im Vorbeigehen mitnehmen kann, dass man nicht einmal einzelne Parts wirklich herausheben könnte, die einem ewig in Erinnerung bleiben. Dahingehend scheut Glass gängige Praktiken auf diesem Gebiet. Seine Motive verweigern Ausbrüche oder übermäßig prägnante Passagen. Doch spätestens mit dem finalen Akt wird klar, dass in genau dieser Eigenschaft die Qualität der Musik begründet liegt. Umso mehr, weil alles davor nur mehr wie eine wirklich wohlgeformte Vorbereitung auf die letzten zehn Minuten wirkt. Das kann aber nicht als Entwertung verstanden werden, im Gegenteil bedingt es mit Blick auf den spirituellen Background, dem sich Glass offensichtlich verpflichtet gefühlt hat, noch mehr Lob. Das lassen wir jetzt aber, sonst muss noch wer anfangen Philip Glass anzubeten und so religiös wollen wir es dann doch nicht.