von Kristoffer Leitgeb, 25.07.2015
Bei allem, was der Film richtig macht, dieser Soundtrack übertrifft ihn noch. Ein Kunstwerk!
Ein altes Sprichwort besagt ja, egal wie gut du in etwas bist, es gibt immer jemanden, der besser ist. Jetzt wirft man mit sowas gern um sich, damit Ambitionsweltmeister endlich einmal auf- und damit Ruhe geben. Eine beeindruckende Unlogik kann die Glückskeksweisheit allerdings nicht verbergen. Schon klar, der Hobby-Kicker ist kein Maradona, der musikalische Newcomer nicht zwingend McCartney oder Waters. Aber Fahnenstangen haben Enden, irgendwo muss also auch oben eines sein, zumindest was die personellen Ressourcen angeht. Qualitativ ist Ende nie, das weiß jeder Perfektionist, aber einer ist halt schon der Beste. Wahrscheinlich darf der Beste nur nie glauben, er sei der Beste, sonst geht's bergab. Deswegen darf man auch von Hayao Miyazaki nicht sagen, dass er die Nummer 1 unter den Animations-Regisseuren ist. Jetzt ja wiederum schon, denn Japans Filmlegende ist in Regie-Pension und damit ist jede Ehrung karrieremäßig quasi posthum. Er ist also der Beste, auch sein kommerzieller Höhepunkt um die kleine Chihiro hat das bewiesen. Und doch, einer war besser.
Wenigstens aber auf einem anderen Gebiet, denn die Konkurrenz kommt aus den Orchestersälen und Tonstudios Japans. In Form des Wegbegleiters Joe Hisaishi, dessen zu hoher Kunst gewordene Arbeit ohnehin nie wirklich enttäuscht hat, noch jedem epischen Film einen epischen Soundtrack zu Teil werden ließ. Und auch Miyazakis Kinderstreifen nach dem Vorbild der Wunderland-Alice - nur eben mit weitaus zündenderem Japan-Flair - darf musikalisch bejubelt werden, vielleicht mehr als jedes andere von Hisaishis Werken. Was Lob auf hohem Niveau ist und die beschissen undankbare Aufgabe hinterlässt, einen beeindruckenden Trip durch klassische Musik aller Gefühlslagen ausreichend zu beschreiben. Leichter gemacht wird einem das sogleich durch den Theme-Song One Summer's Day, der in sich schon die ganze Brillanz der folgenden Stunde vereint. Verspielt, verträumt, dramatisch, emotional, all das ist ausreichend präsent, fließt reibungslos ineinander, vermischt sich, konkurriert miteinander auf produktivste Art. Musikalisch manifestiert sich das in der kontrastreichen Darbietung des New Japan Philarmonic Orchestra. Das begleitet die harmonische, helle Klaviermelodie mit dezenter Prägnanz genauso, wie es den blendenden Sprung zu Epik und Leichtigkeit versprühenden Stakkatos aus Streichern und Bläsern hinbekommt. Das Endprodukt ist grazil, bewegend und aussagekräftig, wie es Soundtrack-Parts nur selten sind.
Womit die restlichen Stücke eigentlich hinlänglich beschrieben wären, denn Hisaishis Kreativität und Präzision lässt genauso wenig nach wie die punktgenaue Umsetzung der Musiker. Und es sind teils schlichtweg außergewöhnliche Momente, die in diesem von allen Knackpunkten befreiten Fluss warten. Dabei beweist der Japaner zur Genüge seine Fähigkeit, mühelos Emotionslagen sprunghaft zu variieren und damit eine ungekannte Dynamik zu entwickeln. All das lässt er auf einen los, in den frenetisch-gehetzten Streichereinsätzen zum Ende von Nighttime Coming als Kontrast zum melancholischen Beginn, in den glasklaren Klaviernoten zu Beginn von Yubaba, dem eine beklemmende Mischung theatralischer Orchesterdarbietung, dezenten Glockenspiels und Klaviers sowie hypnotischen Shakuhachi-Passagen folgt. Dem gegenüber stehen verspielte Minuten wie die von Bathhouse Morning oder It's Hard Work!, deren leichte Arrangements sich einerseits an europäischen Symphonien, andererseits an traditionell japanischer Folklore orientieren, damit für entspannte, sprunghafte Auflockerungen sorgen.
Und das alles enttäuscht nie. Selbst die Hänger sind keine Hänger. Im schlimmsten Fall fühlen sie sich wie das an, was sie eigentlich sind, nämlich reine Untermalungen für die entsprechenden Szenen. Dieses Schicksal trifft die wenigen Momente, die wie The Empty Restaurant trotz aller Mühen weder mit mitreißenden Passagen, noch mit emotionaler Tiefe punkten können. Es sind Minuten, die, von ihrem grazilen Klang getragen, nötige Übergänge zwischen den großen Höhepunkten ergeben oder aber in ihrer klaren Linie für ein ständiges musikalisches und atmosphärisches Hin und Her sorgen. Vor allem die zweite Hälfte kann damit aufwarten. Dort folgt dann im Akkord aggressiv und mitreißend auf in den Wolken schwebende Töne und beklemmende Schwere.
Wer jetzt noch nicht an einem Punkt ist, wo man mal darüber nachdenken könnte, sich das Album vielleicht irgendwann anzuhören, der schreibt sich schleunigst folgendes hinter die Ohren: Das Beste kommt erst noch! Es ist nämlich Sootballs, das die verspielte Seite der Kompositionen am wirkungsvollsten zeigt. Mit eindeutiger Reminiszenz an Tchaikovsky und seinen Nussknacker verschmilzt Hisaishi die federleichten Streichertöne mit den schwergewichtigen Tuben und Posaunen und baut so nebenbei noch wunderbar dynamische Klavierpassagen ein. Im Gegensatz dazu ist es The Sixth Station, das sich neben dem Opener als Flaggschiff der Melancholie beweist. Drückende Stille rund um das schwerfällige Piano und die ausgedünnten Streicher kennzeichnet den Song, der sich als musikalisches Äquivalent zu Einsamkeit und Traurigkeit präsentiert, dabei aber nie die feine Klinge fallen lässt. Als aufbauender Abschluss wartet aber noch Closer Always With Me, wie üblich einziger gesangsverstärkter Track und als solcher dank der starken Stimme von Youmi Kimura vor den spärlichen Gitarrentönen auf alle Fälle ein Gewinn. Und last but so far from least it isn't even funny anymore, The Dragon Boy. Und der ist perfekt. Also perfekterer eigentlich. Selbst ein Perfektionist muss das bei dieser so unglaublich punktgenauen Darbietung voll von Epik und Gänsehautfeeling in jeder einzelnen Sekunde zugeben. Wer also jemals wissen will, wie man Streicher und Bläser im Orchesterformat genau richtig einsetzt, so wird's gemacht.
Dafür kann man aber überhaupt gleich auf das gesamte Album zurückgreifen, denn Fehler sind hier in Wahrheit unter jeder Wahrnehmungsschwelle, selbst wenn auf 21 Tracks natürlich nie und nimmer überall von rundum perfekter Performance gesprochen werden kann. Als Summe ihrer Einzelteile ist die LP aber so kurzweilig, beeindruckend und bei Zeiten gar wirklich bewegend, dass man Joe Hisaishi nur mehr ganz, ganz schwer Vorwürfe machen könnte. Und für das kleine Euzerl, das vielleicht noch fehlen könnte, bleibt immer noch der Blick auf die Fahnenstange und ihr Ende. Denn qualitativ ist Ende nie, aber irgendwann muss ja einer der Beste sein. Warum dann nicht einfach der Mann an Hayao Miyazakis Seite?