von Kristoffer Leitgeb, 01.09.2017
Eine seiner schönsten Melodien und die zu Recht verkannte Kunst des Ausschlachtens.
Im ersten Augenblick könnte man glauben, es wäre äußerst einfach, einen Meister seines Fachs zu erkennen, welches auch immer das sein mag. Im Sport stimmt das sogar, der funktioniert beinahe ausschließlich nach mathematischen Prinzipien, vergleicht Zeitmessungen, Richterwertungen, Punktezahlen. Relativ einfache Sache. Die Kunst ist anders und macht das Wesen des Meisterlichen zum Diskussionsstoff. Was übrigens nicht nur für den Über-Drüber-Status von Kanye West, Kendrick Lamar oder vor gar nicht allzu langer Zeit Arcade Fire gilt, sondern sogar für den von Herren und Damen Beethoven, Austen, Van Gogh oder Chaplin. Niemand ist also vollkommen sicher, gesellschaftliche Strömungen und Wünsche, schlichte subjektive Ansprüche stellen sich da mitunter als lästige Kontrapunkte heraus. Ergo ist auch Joe Hisaishi, dieser primus inter pares der großen Soundtrack-Komponisten kein in Stein gemeißelter Meister. Mit "Kikujirō No Natsu" liefert er dafür sogar eine Teilbegründung.
Die sich als solche schwer tut, in die Gänge zu kommen, weil der ewige Komplize der Großartigkeit von Anime-Regisseur Hayao Miyazaki auch als Musiklieferant für Takeshi Kitano zu glänzen weiß, wenn der Startschuss fällt. Summer gilt als eine seiner bekanntesten und besten Kompositionen und während ersteres leicht zu untermauern ist, möchte man auch zweiteres beinahe unterschreiben. Zumindest spricht die altbekannte zerbrechlich-natürliche Note aus dem Stück, das sich wie wenig andere als voller Erfolg seiner klavierbasierten Arbeit erweist. Und das schlicht und einfach deswegen, weil sich das geniale Leitmotiv, das er sich für den Theme Track des Films einfallen hat lassen, zwar allein am Klavier, unterstützt von hellen Streicherklängen, am besten anhört, fast problemlos aber auch auf alle anderen musikalischen Felder übertragen lässt. Insgeheim würde wohl sogar eine Metal-Version ganz gut klingen. Vorerst hört man eine gezupfte, wird aber einem lebendigen, klimpernden Intermezzo vor allem von der alleingelassenen Vorstellung am Klavier vereinnahmt, die den eröffnenden Track abschließt.
Es ist nun keine pure Magie, sich einfacher Melodien an den schwarzen und weißen Tasten zu bedienen, um daraus die größtmögliche emotionale Wirkung und zerbrechliche Schönheit zu gewinnen. Yann Tiersen und Amélie können ein Lied davon singen. Was sich Hisaishi in der Folge allerdings erlaubt, ist mit den Begriffen Minimalismus, Uniformität oder Kohärenz nicht wirklich hinreichend beschrieben. Der gesamte Score ist anscheinend auf und um dieses Leitmotiv aufgebaut, gefühlt begegnet es einem in kaum einer Minute nicht. Immer mal wieder mit Abwandlungen wie jene, die durch traditionell japanische Klänge an den Trommeln und glockenklare Percussion in Mad Summer eingeläutet werden. Letztlich ist die Melodie aber dort auch ident mit der der ersten Minuten. Die schwermütigen Streicher von Real Eyes oder das Cello-Solo von Yumiko Mooroka in The Rain sind es, die dann trotzdem noch mit neuen Ideen aufwarten, die, wenn sie schon keine wirkliche atmosphärische Abwechslung zu bieten haben, immerhin andere Motive präsentieren können.
Selbst dann ist aber von fühlbaren Änderungen kaum eine Spur. Ja, man erkennt die gedrückte Dramatik der Streicher hier, die ewig nostalgisch wirkende Lebhaftigkeit, die Hisaishi anscheinend immer verarbeiten will, an anderer Stelle. Aber es ist doch eine frappante Einengung der Emotionen, die er - vielleicht auch bedingt durch die wenig Freiraum bietende, in sehr engen Dimensionen ablaufende Geschichte des Films - sich selbst auferlegt. Kein Vergleich mit den nahtlos ineinanderfließenden, immer wechselnden Eindrücken, die er für den Aufenthalt von Chihiro im Zauberland vertont hat. "Kikujirō No Natsu" kennt sowas nicht, braucht sowas für eine grundsolide Darbietung von Orchester und Komponist auch nicht wirklich. Wie schnell allerdings der Spannungsbogen der gesamten LP abgehandelt ist, merkt man in aller Schnelle daran, dass das starke, Suite-artige River Side und das finale Summer Road wirklich nicht mehr oder weniger sind als Neuaufbereitungen der einleitenden Formeln und Klänge. Das in starker Manier, wie sie das mäßig dahinplätschernde Two Hearts nicht hinbekommt.
Nur wird auch Hisaishi selbst klar sein, dass hier auf Albumlänge sehr bald der Moment einsetzt, an dem man sich in einem einzigen, langen Song wähnt. Dass sich dieser Eindruck nicht verfestigt, dafür ist eigentlich nur Night Mare verantwortlich zu machen, das als minimalistische Einlage, geprägt von einem elektronischen Herzschlag und wiederkehrenden Soundeffekten und Trommeln, eine wirklich drastische Abkehr vom übrigen musikalischen Credo bedeutet. Damit kommt er nicht weit, eigentlich landet er nach knapp zwei Minuten in einem Nirgendwo, das wenig an emotionalen Spuren hinterlassen würde. Aber es ist Abwechslung.
Von der allerdings nicht sicher zu sagen ist, ob es sie braucht. Also in der Praxis bräuchte es sie, wenn auch doch in anderer Form. Die Theorie erkennt aber das melancholische Zusammenspiel orchestraler Streicheroden und verspielt-romantischer Klaviereinlagen als ureigene Stärke von Joe Hisaishi. Natürlich wäre es, dem folgend, ein Leichtes, "Kikujirō No Natsu" als Meisterwerk zu bezeichnen, immerhin veranstaltet der Japaner hier fast nichts anderes als genau das und mauert sich in seiner Domäne ein. Nur ruft dabei nichts ähnliche Emotionen wie One Summer's Day oder The Sixth Station, die filigransten Volltreffer zu Chihiros Zeiten, hervor oder vermittelt Intimität wie der Soundtrack zu "Ano Natsu, Ichiban Shizukana Umi", an dem er Jahre früher gearbeitet hat. Geschweige denn, dass irgendetwas die finalisierte, epische Vollkommenheit von The Legend Of Ashitaka erreichen würde. Wobei das auch dezent Fehl am Platz wäre. Selbst wenn Hisaishis Score zum Film perfekt passt, steht er aber immer noch im Schatten der meisten Kollaborationen mit Miyazaki und kann mit dem engen atmosphärischen Korsett zumindest in der musikalischen Reinform nur schwer umgehen. So hoch die Latte auch liegt bei diesem Meister seines Fachs, selbst nach Maßstäben Normalsterblicher ist ihm hier nur ordentliche Arbeit gelungen.