von Kristoffer Leitgeb, 15.09.2019
Die musikalische Essenz des gesamten Psychothriller-Genres in wenigen legendären Minuten.
Man kann es nicht oft genug sagen, dass legendäre Filme meistens keine solchen wären, wäre nicht die passende großartige Musik dazu komponiert bzw. eingespielt worden. Es ist allerdings relativ selten, dass selbst der für das Meisterwerk verantwortliche Regisseur eingesteht, dass gut ein Drittel der Qualität des Films auf den Komponisten und seine Arbeit zurückgeht. Noch gravierender ist dieses Eingeständnis von jemandem wie Alfred Hitchcock, der ja doch ziemlich von seinen eigenen Fähigkeiten überzeugt gewesen sein soll. Doch man kann Verständnis dafür aufbringen, geht es doch hier um Bernard Herrmann und wichtiger noch, um dessen Arbeit für "Psycho", die nicht einfach nur beispiellose Filmmusik ist, sondern effektiv einem gesamten Filmgenre gezeigt hat, wie es geht. Dieser Umstand wird verdeutlicht dadurch, dass wohl niemand, der je mit Film in Berührung gekommen ist, behaupten kann, keine Sekunde dieses Soundtracks zu kennen. Wenig überraschend lohnt es sich, ihm auch im Stundenformat begegnet zu sein.
Tatsächlich ist es allerdings so, dass das mit der 60 Minuten überdauernden Tracklist hier so eine Sache ist. Denn Herrmann hat sich für eine sehr reduzierte Form des Arrangierens und letztlich auch des Komponierens entschieden. Statt dem von Hitchcock erbetenen Jazz-inspirierten Werk ist es ein klassisch orchestriertes geworden, nicht aber in der fülligen, sondern in der auf Streicher reduzierten Version. Nichts bekommt man hier, das nicht einem Streichinstrument entlockt wurde. Und man bekommt auch fast nichts, das nicht weltberühmt ist. Nun sind bekanntermaßen nur wenige Minuten dieser glorreichen Filmmusik weltberühmt, beides schließt einander allerdings insofern nicht aus, als dass der US-Amerikaner durchaus etwas auf Wiederholungen gibt. Daher erübrigt sich bei ganzen 40, vorteilhaft kurzen Tracks ein Eingehen auf eine Vielzahl davon, die Varianten sind nämlich beschränkt. In einem ewigen Wechsel aus Spannungsaufbau und beklemmend aggressiver Spannungsentladung, begegnet man hauptsächlich zweierlei: Den frenetischen, allseits bekannten Kompositionen, deren Einsatz der Streicher von den kontrollierten Stakkatos des eröffnenden Prelude bis zum manisch-schrillen, die Menschheit seit jeher terrorisierenden Kreischen der Violinen in The Murder reicht. Dem gegenüber stehen kurze Stücke, deren schwebende Saitenstriche gleichermaßen träumerisch ruhig und albtraumhaft paranoid wirken. Alles spielt sich zwischen diesen in Schleifen wiederkehrenden Mustern ab, sodass man eben auch das Mittelmaß, die abgehackten, kurzen Einsätzen von Hotel Room zu hören bekommt. Die sind nicht aggressiv, aber in Verbindung mit den langgezogenen, hohen Noten im Hintergrund ein Paradebeispiel für behänden, stetigen Spannungsaufbau.
Nichts kann einen aber davon abhalten, die Hochspannung den ruhigeren Minuten vorzuziehen. Prelude ist ein Traum von einer Komposition. Diese gehetzten, wild ineinander verlaufenden Einsätze der unterschiedlichen Streicher, die kristallklaren Klänge, die in zwei Minuten dafür sorgen, dass der Puls Höchstwerte erreicht und man den Horror heraufziehen spürt. Lediglich einzelne Saitenzupfer komplettieren dieses Bild, in dem sich die in schrille Höhen abrutschenden Violinen und die gedämpft tief klingenden Gegenstücke im Streicherensemble miteinander duellieren und ein dichtes klangliches Gewirr erzeugen. Diese Eröffnung brandmarkt alles, was noch folgt, im positiven Sinne. Als etwas unheimliches, das einem Verfolgungswahn nahelegt. Daran ändert sich auch absolut nichts, nur weil der Soundtrack umgehend danach für längere Zeit in eine trügerische Ruhe verfällt. Wie beklemmend alleine die sein kann, macht einem sowieso direkt The City deutlich, denn dessen langgezogene Passagen wirken zwar friedlich, der gedämpfte, drückende Charakter dieses Streichersatzes lässt einen auch dank der unheilvoll auf- und abschwellenden und zwischen den Tonhöhen hin und her schwingenden Instrumenten aber nicht wirklich zur Ruhe kommen.
Allerdings lässt sich nicht leugnen, dass der Score alsbald wirklich abebbt und in trügerischer Gesetztheit in Wahrheit erneut Anlauf nimmt, um einem mit The Rainstorm eine weitere großartige Aufarbeitung des eröffnenden Motivs zu bieten. In Wahrheit ist einem auch egal, wie oft dieses Motiv hier wiederholt wird - es passiert dann doch vier Mal -, es klingt einfach immer wieder herausragend, wenn auch nie in der puren Form wie zu Beginn. Was aber nicht daran liegt, dass man es mit großen Veränderungen zu tun bekäme. Allein wegen der musikalischen Beschränkungen, die sich Herrmann selbst auferlegt hat, sind nur bedingt Varianten möglich. Doch The Rainstorm ist länger, wirkt nicht nur eine Spur langsamer, sondern auch ein Stück weit geordneter und schließt, statt mit einem ultrakurzen, tiefen Ton, mit einem ebensolchen in langgezogener, langsam verhallender Form ab.
Um nun aber doch den Elefant im Raum anzusprechen: Ja, The Murder ist genial. Es ist nur etwas mehr als eine Minute, aber die lauten, schrill kreischenden Violinen wirken in bravouröser Form selbst wie Messerstiche und münden nach ihrem frenetischen Auftritt noch dazu in genau dem grandiosen, langgezogenen Abschluss, den auch The Rainstorm bietet. Nur, dass dieser wirkungsvoll stockend gerät, wieder und wieder neu aufgerollt und von den Violinen jedes Mal wieder unterbrochen wird, bis irgendwann die schweren Streicher das finale Kommando übernehmen. Es ist eine Art musikalisches Ausbluten, perfekt passend zur Szenerie direkt nach dem berühmten Duschmord. Man begegnet genau diesem Motiv übrigens noch einmal in The Knife, dort allerdings in schräg beschleunigter Form, die merkwürdigerweise nicht ganz die gleiche Wirkung entfaltet, sondern im direkten Vergleich letztlich wie ein perfektes Stück Musik auf eineinhalbfacher Geschwindigkeit wirkt.
All das bisher Geschriebene behandelt ungefähr zehn Minuten dieses Soundtracks und ungefähr in diesem Umfang spielen sich auch jene Kompositionen ab, die seit ihrer Verwendung im Film historisches Kulturgut darstellen. Der Rest ist hier tatsächlich der Rest, was einem leicht komisch erscheinen kann, soll doch der Soundtrack ein starker sein. Es heißt hier aber die Relationen zu wahren. Denn legendär ist rein zahlenmäßig hier nicht viel, doch die übrigen Tracks zeugen immer noch von starker Arbeit. Es ist jedoch Arbeit, die sich, wie erwähnt, hauptsächlich auf den Spannungsaufbau konzentriert und dementsprechend weniger prägnant nachwirkt. Herrmann perfektioniert hier die musikalische Aufbereitung eines schwelenden Übels, das immer wieder ausbricht, aber eben die meiste Zeit in einem anderen Zustand verharrt. Wahrscheinlich überrascht es nicht weiter, dass dieses Schwelen, dieses Warten auf den nächsten Höhepunkt, mit zunehmender Dauer des Soundtracks etwas zur Geduldsübung wird. Die zweite Hälfte dieses Albums ist keine der Überraschungen und entsprechend auch keine, die vollends überzeugt, auch wenn sie mit der gleichen Präzision und dem gleichen Gefühl für wirkungsvolle Arrangements ausgestattet ist und dementsprechend trotz des repetitiven Charakters immer noch grundsolide klingt.
Vielleicht ist das hier trotzdem das Paradebeispiel für einen herausragenden Soundtrack, bei dem man sich trotzdem ohne Schuldgefühle die Perlen herauspicken darf. Denn "Psycho" baut auf ein atmosphärisches Auf und Ab, das von Bernard Herrmann richtigerweise und bewusst mit musikalischen Wiederholungen unterlegt wurde. Die Unterschiede in den diversen Interpretationen seiner Motive sind nuanciert und nur selten so offensichtlich wie im Falle des Murder-Themas. Es sind einzelne Noten, minimale Verschiebungen in der Präsenz der Streichergruppen und geschickten Ver- und Entflechtungen dieser. Aber man wieder genau hinhören müssen, um diese spürbar wahrnehmen zu können.
Unbeeinflusst von all dem, hat man es hier mit etwas zu tun, das mit Recht legendär ist und auch nach Jahrzehnten nachwirkt, nichts an Intensität verloren hat. Bernard Herrmann hat hier ein kaum zu erreichendes Gardemaß für Thrillersoundtracks geschaffen und mit der Reduktion der musikalischen Mittel ikonische Musik geschaffen. Hier übrigens reviewt in der am weitesten verbreiteten Form aus dem 97er-Jahr und eingespielt vom Royal Scottish National Orchestra unter der Leitung von Joel McNeely, was daran liegt, dass Herrmanns originaler Score erst 2011 als limitierte LP erschienen und dementsprechend schwer in die Hände zu bekommen ist. Das verdirbt einem den Genuss aber nicht im Geringsten.