von Mathias Haden, 22.04.2019
Eine verspätete Grabrede auf den wunderlichen Black Sheep Boy der Pop-Musik.
Den Toten zu huldigen ist in jeder Kultur dieser Welt eine gängige Praxis. Erinnerungen werden bewahrt und gehütet, bis sie selbst noch weniger sind als die Asche jener, die sich an ihnen festhalten. Wer keine Angehörigen oder Freunde hat, hört fernab von diversen Datenbanken und Dokumenten in der Sekunde auf zu existieren, in der die Beerdigungsangelegenheiten ad acta gelegt werden. Andere haben mehr Glück und überdauern die eine oder andere Generation und wiederum andere schaffen es sogar, durch ihre zu Lebzeiten akkumulierten Errungenschaften und Leistungen Jahrhunderte im kollektiven Gedächtnis zu verweilen. Ob Letzteres auf Scott Walker, der genau heute vor einem Monat (22.3.2019) zumindest für Außenstehende sehr plötzlich das Zeitliche segnete, zutreffen wird, kann ich nicht beurteilen. Zwar sind sowohl sein song- und soundtechnisches Genie als auch seine Beiträge zur Pop- und Avantgarde-Geschichte bestens dokumentiert und nicht wenigen Menschen mit der größte musikalische Genuss, doch hatte Walker Zeit seines Lebens nie so ganz die Strahlkraft eines Bob Dylan, David Bowie oder in gewisser Weise auch Leonard Cohen, obwohl er gerade in den ersten Jahren seiner Karriere auch kommerziell eine vielversprechende Personalie war und genug Charisma für zehn Künstler vereinte. Mit dieser Besprechung seines zweiten Werkes als Solokünstler möchte ich nun einen winzigen Beitrag dazu leisten, dass Noel Scott Engel, wie Walker mit bürgerlichem Namen hieß, niemals vergessen wird. In diesem Sinne: R.I.P., großer Meister!
Als Scott 2 im März 1968 - wie schon das Debüt mit erheblichem Vorsprung zuerst im U.K. - die Läden erreichte, hatte Walker seine letzten Pflichten als Walker Brother bereits erfüllt und konnte sich fortan vollends auf seine Solokarriere konzentrieren, die im Pop-Kosmos bis heute einzigartig bleiben sollte. Für den Nachfolger seines eigenwilligen, aber absolut lohnenden Erstwerks Scott, setzt Engel die eingeschlagene Route fort. Erneut finden sich auf den zwölf Tracks neben eigenen Kompositionen auch Interpretationen vom belgischen Singer-Songwriter und Dichter Jacques Brel, dazu zeitgenössische Coverversionen und Adaptionen von Filmstücken. Fast schon redundant, erneut darauf hinzuweisen, dass die Brel'schen Songs in ihrer schwärzlichen Färbung wieder eine ganz eigene Angelegenheit innerhalb der Grenzen der Popmusik sind. Nachdem das Debüt mit Brels Mathilde und energetisch losgetreten wurde, heißt das dicke Brett zum Auftakt diesmal Jackie und setzt auf dieselbe Formel aus wütenden Fanfaren, dynamischen Streichern und einem Vortrag mit ordentlich Nachdruck. Eine letzte Parallele findet sich noch, nämlich, dass beide jeweils die einzigen Singles ihrer jeweiligen LP bilden, wenn auch im Fall von ersterer nur in Japan:
"My name would then be handsome Jack
And I'd sell boats of opium
Whiskey that came from Twickenham
Authentic queers and phony virgins"
...was man anno '68 halt so von den einschlägigen Radiostationen gehört hat neben Velvet Underground und Zappa. Bitterböse ist auch Brels möglicherweise (hoffentlich nicht) autobiographisch beeinflusstes Next, in dem Walker in die Rolle des vom Armeepuff traumatisierten jungen Mannes schlüpft:
"Next, next, now I always will recall
The brothel truck, the flying flags
The queer lieutenant who slapped
Our asses as if we were fags
Next, next
I swear on the wet head
Of my first case of gonorrhea
It is his ugly voice
That I forever hear
Next, next"
Und während die Schilderung weitere unschöne Details ans Licht bringt und die Unfähigkeit zur Knüpfung zukünftiger Beziehungen noch das kleinste Problem sein dürfte, machen die Dämonen und verstörende Erinnerungen ruhige Nächte für alle Zeit undenkbar - das traurige Fazit:
"One day I'll cut my legs off
Or burn myself alive
Anything, I'll do anything
To get out of line to survive
Never to be next"
Gegen solche Brocken hat es The Girls And The Dogs naturgemäß nicht leicht und fällt tatsächlich etwas ab, dank seinem dynamischen Shuffle und dem eleganten Streichereinsatz ist es jedoch alles andere als ein Ausfall.
Gut nur, dass Walker selbst in der kurzen Zeit zwischen den ersten beiden Soloalben einen kleinen Sprung gemacht hat und als Songwriter noch ein wenig besser geworden ist. Seine vier Stücke bilden jedenfalls auf Scott 2 das Gerüst, das in seinen noch fließender gewordenen Übergängen zu den Brel-Stücken eine düstere Magie ausstrahlt. Ohne jetzt noch weitere lyrische Referenzen herziehen zu wollen, lässt sich der direkte Einfluss von Brel auf Walker nämlich ganz deutlich erkennen. Angeführt von The Girls From The Street, das seiner Fleischeslust so offen frönt wie kaum ein anderer Pop-Song, wirken Walkers taktlos unheilvolle Geschichten nämlich auf eine schräge Art und Weise gleichermaßen realitätsnah wie -fremd:
"Quick give us your lips
Give us your thighs
Give us your sad and devouring eyes
Cascading tears for every heartbeat
Tonight we'll sleep with the girls from the streets"
Wer sich dazu nun euphorische Melodien und ein triumphierend aufspielendes Orchester im Karnevalmodus vorstellen kann, der hat die Kunstfigur Scott Walker in seinen jungen Jahren verstanden, wird auch mit den anderen seiner Kompositionen zumindest eine kleine Freude haben.
Was das Soundgebilde angeht, so lässt sich festhalten, dass Walker auch hier seiner Linie treu bleibt und auf jene Form der Klangverdichtung setzt, die als "Wall of Sound" in die Pop-Historie eingehen sollte und wohl auf ewig mit dem Namen Phil Spector verbunden bleiben wird. Davon profitieren zwar nicht alle Stücke gleichermaßen, doch verleiht er den beiden ersten LPs eine Eigentümlichkeit, die über deren exzentrische Lyrik hinausgeht. Wenn man Haare in der Suppe sucht, findet man sie wenn überhaupt erneut in den Interpretationen der Filmsongs. Dort, etwa auf Wait Until Dark von Henry Mancini oder Come Next Spring, verschwimmen die hier sonst sehr charmanten Streicher und Walkers erhabener Croon-Bariton - mit dem er besonders gerne besagte Filmstücke zu veredeln weiß - zu einem üppigen Soundgemisch, das einer ordentlichen Portion Kitsch nicht entbehrt. Hollywood-Scores der 50er und 60er eben - ein Schelm, wer böses dabei denkt.
Würde man die ersten beiden Walker-Alben zusammenlegen und die Film-Covers streichen, hätte man eines der besten frühen Doppelalben aller Zeiten im Kasten gehabt. Aber Noel Scott Engel war immer schon ein wenig anders und statt einem kolossalen Album können wir uns heute über zwei sehr gute LPs freuen. Denn Scott 2 vereint alle Stärken (und Schwächen) des Debüts, verbessert sie geringfügig und rundet damit die erste Phase einer beeindruckenden Entwicklung mustergültig ab. Und hey, wer sich nach The Lady Came From Baltimore mit Black Sheep Boy schon wieder einen großartigen Tim Hardin-Song zur Brust nimmt, der muss letzten Endes triumphieren, wenn er schon dort hingeht, wo sich praktisch kein anderen hintraut. Nun ruhe in Frieden, wunderlicher Black Sheep Boy der Pop-Musik.