von Kristoffer Leitgeb, 23.05.2021
Die hymnische Vollendung einer Mission in aller gebotenen Härte, Epik und mit dem nötigen Humor.
So, jetzt erst einmal alle ruhig durchatmen, bevor im Lichte dieser wohl unter so manchem Gesichtspunkt merkwürdigen Bewertung da unten das wilde Kommentieren losgeht. Lasst mir das durchgehen. Denn zum einen ist es der feierliche, unfassbare, hochoffizielle tausendste MusicManiac-Review, der hier nun steht! So etwas gehört gefeiert und erlaubt Schritte außerhalb der Norm. Zum anderen sind Rammstein an sich und dieses Album ebenso ein Relikt meiner musikalischen Vergangenheit und Wesensbildung. Mir bereits in Kindestagen nähergebracht durch einen meiner großartigen Brüder, der mich damit ein bisschen zwangsbeschallt hat, begleiten mich "Mutter" oder zumindest dessen Singles seit nunmehr 20 Jahren und damit schon seit Tagen, als meine Milchzähne noch da waren. Und es macht definitiv etwas mit einem, wenn man Songs wie Feuer Frei! oder Links 2 3 4 bereits im zarten Volksschulalter in den Ohren hat. Was das genau ist, wer weiß das schon? Womöglich wurzelt mein verkorkstes Dasein auch nur in dieser frühen musikalischen Prägung…
Bevor all das nun in ein tiefenpsychologisches Seminar unter dem schlechten Stern des Doktoren Freud ausartet, rücken wir doch die Hauptakteure in den Fokus. Denn all das bisher Geschriebene soll mitnichten eine Rechtfertigung für eine ansonsten deplatzierte Huldigung dieses Albums sein. Sie ist nämlich nicht deplatziert!
Dem so gerne, effektiv und auf vielen Ebenen polarisierenden deutschen Sextett ist nämlich zu Beginn des 21. Jahrhunderts ihr eigenes Meisterstück gelungen, das die Entwicklung seit Gründung der Band zu einem krönenden Abschluss bringt und in seiner stilistischen Uniformität und perfekten Inszenierung gleichzeitig die nachfolgenden, Neuland betretenden Alben aussticht. Zurückzuführen ist das auch darauf, dass man sich nicht etwa einer plumpen Steigerung des Vorangegangenen hingibt. Hätte man es getan, es wäre sehr ungesund gewesen. Denn die brachiale, monotone Härte von "Sehnsucht", deren abgehacktes Gemisch aus Gitarren, wuchtigster Drums und schrill-metallischer Elektronik bereits auf Länge eines Albums auslaugende Qualitäten bewiesen hat, lechzt nicht nach einer Fortsetzung oder gar einer noch zusätzlichen Übertreibung. Dementsprechend wurde umgeschwenkt, auf die industrielle Abhärtung folgt eine zwar nicht minder wuchtige, aber eher in dramatischer Epik aufgehende Vorstellung. Das zündet von Beginn weg, wenn mit dem cineastischen Streicherarrangement von Mein Herz Brennt am Symphonic Metal angedockt wird und so durch die Mischung aus epochaler Übergröße und drückender, düsterer Schwere nahezu Perfektion gelingt. Zweifelsfrei hilfreich ist es da, dass unter gewohnter Anleitung durch das quasi inoffizielle siebte Bandmitglied, Produzent Jacob Hellner, klanglich weiter aufgerüstet wurde. Die daraus resultierende Abmischung, diese ideale Balance aus trockener Härte, drückenden Riffwänden, prägnanten elektronischen oder symphonischen Zusätzen und natürlich in der Mitte dessen die tiefe Stimmgewalt eines Till Lindemann auf seinem kaum zu bestreitenden gesanglichen Höhepunkt kennt keine Fehler.
Insofern ist es eine einzige, unfassbar großartige Show, die einen mit ihrer wuchtigen Epik umgehend packt, mit düster-martialischen Anklängen in Links 2 3 4 oder Spieluhr zwar sicher nicht zu Tränen rühren will, aber einen definitiv nicht kalt lässt, gleichzeitig auch einfach unfassbar schnell und langlebig im Ohr hängen bleibt und das unqualifizierte Mitsingen mit Lindemann herausfordert. Die Band kann sich also rühmen, beinahe alles abzudecken, was man sich wünschen kann, außer man will unbedingt liebliche, romantische Klänge und auf vollendete Harmonie bedachte Arbeit. Denn das ist der Deutschen Sache nicht, auch wenn die Inszenierung in ihrer Ausgewogenheit, ihrer klanglichen und stilistischen Klarheit ja doch wieder harmonisch ist. Aber das liebliche Liedgut ist definitiv nicht Ziel der Band. Viel eher ist es die martialische, eigentlich den Klitschko-Brüdern zum Einzug in den Ring gewidmete, von den Weicheiern aber als zu hart abgelehnte Hymne Sonne. Dort treffen mit den elektronisch-sterilen Härteeinlagen in den Strophen und dem dramatischen Refrain mit seinen hohen, weiblichen Stimmsamples und Lindemanns Schwenk vom harten Sprechgesang zu langgezogener, tiefer Eindringlichkeit zwar nicht Welten, aber umso stimmigere Einzelteile aufeinander.
Zwar geht es vermeintlich einfacher sogar mitunter noch besser, wie der manisch galoppierende, letale Drogenrausch von Adios generell und auch mit seinem kurzen, kratzigen Solo beweist. Gerade diese brachiale Geradlinigkeit erweist sich jedoch als Fluch und Segen gleichzeitig. Denn den Höhepunkten auf diesem Gebiet, wie es selbst der nahezu zu einfache Energieüberschuß von Feuer Frei! noch ist, stehen auch weniger begeisternde Minuten wie die über die Jahre ermüdende, grenzwertige Ode an die Selbstliebe von Zwitter und vor allem die träge dahinstampfende und textlich gleichermaßen uninteressante wie geschmacksarme Sex-Nummer Rein Raus gegenüber. Die offenbart im Titel inhaltlich schon alles, schließt unwillkommen an manch Darbietung aus dem vorigen Jahrhundert an und markiert so einen im Albumkontext wirklich unpackbaren Qualitätsabfall ins Schrottige.
Es bleibt aber ein einsamer Ausreißer, der in Maßen abgefedert wird durch die atmosphärischen Balladen Mutter und Nebel, die sich womöglich etwas zu viel auf Lindemanns Stimme verlassen, viel mehr noch aber durch die cineastische Erzählung vom scheintoten Kind in Spieluhr. Der Höhepunkt inmitten dieser Ansammlung von Höhepunkten, zu denen man eigentlich noch den leider nur auf der japanischen Version enthaltenen Hidden Track Hallelujah als schmerzhaft-düstere Abrechnung mit pädophilen Priestern zählen muss, ist jedoch Ich Will. Gleichermaßen Parodie einer auf Mitsing-Hymnen reduzierten Rockwelt wie treffend direkter, vor allem 20 Jahre später verdammt passend erscheinender Kommentar zum Verlangen nach Aufmerksamkeit und Ruhm, ist es die ultimative Vollendung all dessen, wofür es Rammstein zu schätzen gilt. Hart und kompromisslos in seiner Gangart, gleichzeitig in den brodelnden Strophen hauptsächlich vom pochenden Bass und den wuchtigen Drums bestimmt, vor allem aber mit einer unfassbaren Anziehungskraft im herrlich einfachen Refrain. Dass der, seiner parodistischen Intention zum Trotz, keine andere Wahl lässt, als in Lindemanns autoritär-tiefe Fragestunde an das Publikum einzustimmen, ist ironischer Beleg für die Wirkung des Songs.
All das wäre aber wenig ohne die bereits festgestellte klangliche Perfektion, die eben nicht nur den stimmlichen, mächtigen Nachdruck an vorderster Front betrifft, sondern auch alles, was sich dahinter abspielt. Richard Kruspes Riffs ertönen wuchtig wie eh und je und doch präziser, kreieren zusammen mit den vor allem in Refrains unablässig stampfenden Drums brachiale Soundwände, dazwischen tobt sich "Flake" Lorenz mit allem möglichen an elektronischen Sounds aus, sampelt Choräle und helle Gesangsstimmen, klimpert metallisch dahin, lässt Synths pulsieren, während Olsen Involtini hier und da mit Streichern aushilft. Das Gesamtpaket erfüllt dabei Wünsche nach cineastischer, dramatischer Atmosphäre, nach brachialen Einlagen, düsteren Texten, eindringlichen Gesängen und gleichzeitig nach schlichter Unterhaltung, kraftvollen, nicht zu entfliehenden Hymnen gleichermaßen. So geht "Mutter", so geht Rammstein, so geht ein streitbarer Triumph harter Epik.