von Kristoffer Leitgeb, 02.02.2017
Gerade der Schritt in Richtung Einfachheit und Geradlinigkeit macht den größten Wurf möglich.
Kaum ein Vorwurf könnte jemanden wie mich öfter treffen, als der, alles mir in die Quere Kommende zu zerdenken. Und kaum ein Vorwurf könnte jemanden wie mich mehr treffen als ebender. Irgendetwas außer der Stubenreinheit sollte uns dann doch noch vom WauWau unterscheiden. Was sonst als Denken sollten wir mit unseren Hirnläppchen auch anfangen? Für den Pathologen konservieren? Allerdings geht es um andere Herrschaften, nämlich diese Briten mit dem Abonnement auf Kritikerjubel. Das passt insoferne ideal, als dass sich Radiohead über Jahre und zumindest vier Alben genauso als unerbittliche Denker präsentiert haben, bei denen Sekunde für Sekunde Planung und Konspiration unterworfen zu sein schien, bei denen die Musik mehr Facetten abbekommen sollte als die Augen einer Fliege. Hat soweit funktioniert, die Welt war hin und weg, manch Klassiker geboren. Trotzdem kam dann irgendwann "Hail To The Thief" und damit der Moment, an dem ausgerechnet das Nach- und Durchdenken den Kontrollverlust und eine bewegungslose Kälte nahe gebracht hat, die der Grandiosität nicht förderlich waren. Das Kind dieser etwas ausweglos erscheinenden Fehlentwicklung und einer längeren Pause heißt "In Rainbows" und damit eine LP gewordene Meisterleistung.
Eine neue Herangehensweise war anscheinend alles, was es nach den düsteren Jahren tiefsinniger Betrübnis und Weltverdrossenheit gebraucht hat. Was in den ersten Tagen des Jahrtausends ein langwieriger Prozess, ein gleichermaßen kontrolliertes wie ideenreiches Auskundschaften der eigenen kreativen Unwelten war, hat einen Drall in Richtung einer den Live-Auftritten entnommenen Energie und Leichtigkeit bekommen. Weniger inhaltlich, doch der Zehnerpack an Songs, der einem geboten wird, strahlt eine selbstverständliche, unkomplizierte Genialität aus, dass jeder Kollege der Briten nur neidisch werden kann. Organisch und rockig fast wie Mitte der 90er erklingt schon 15 Step und das trotz des kantigen, elektronischen Beats, der den Track unerbittlich vorantreibt. Elektronik hin oder her, das Gemisch aus Jonny Greenwoods eleganten Zupfern, dem genialen Bass seines Bruders Colin, der geschmeidigen Synth-Klänge und Thom Yorkes lockerster Performance seit....eigentlich eh immer schon, es ist in einem nicht zu entgehenden Fluss. Ohne Verwerfungen oder Turbulenzen, stattdessen mit einer gleichermaßen manisch wie gedankenverloren wirkenden Antriebskraft.
Nichts kann in der Folge diesen Strom der wohlgeformten Qualität stoppen. Während des Tourens konzipiert und dementsprechend mit dem nötigen Hauch von aufbrausender Spontanität gesegnet, gelingt der Band beinahe jede Minute, in Bodysnatchers als der geradlinigste Rocker seit Electioneering, von Distortion und doch Harmonie gekennzeichnet, im fast kitschigen House Of Cards dagegen als der Gemütlichkeit ergebenes Wehklagen über ruhigen Gitarrenakkorden. Radiohead wären allerdings nicht sie selbst, würde das gewisse Etwas nicht doch noch in der unablässigen Liebe zum Detail und zur Vielschichtigkeit der eigenen Musik gefunden werden. Greenwood und Yorke übertreffen sich dahingehend selbst, führen die elektronischen Abenteuer, die in den überpolierten Welten von "OK Computer" und der klaustrophoben Kälte von "Kid A" begonnen haben, hin zu beeindruckendem Understatement. Fast immer da, nie zu dominant, nie zu zurückhaltend. Und selbst, wenn wie in House Of Cards die Streicher den Hauptteil der Unterstützung übernehmen, bleibt immer noch die präzise, treffsichere und glasklare Produktion, die in perfekter Balance und also ohne bombastische Übernutzung erscheint.
So etwas wie schlechte Momente erlaubt man sich dementsprechend nicht, noch nicht einmal durchschnittliche könnte man beklagen. Das möglicherweise zu sehr auf Yorkes hohes Flehen fokussierte Nude bekommt mit seiner gar meditativen - sprich inaktiven - Instrumentierung schon die rote Laterne umgehängt. Dabei steckt da trotzdem noch eine romantisch-verlorene Schönheit durch, die einen nur schwer kalt lässt. Wobei ausgerechnet die Balladen in ihrer Ruhe vielleicht nicht die starke Seite des Albums darstellen. Das finale Videotape zieht einen als fast reines Klavierstück und unerwartet reduzierte Performance in einen traurigen Bann, lässt aber einen Hauch der vorher gehörten Finesse im Kleinen und Winzigen vermissen, besonders spürbar durch den harten, schwer einzupassenden Beat, der zur Songmitte immer dominanter wird. Und auch das gegenteilig angelegte Faust Arp, mit Akustikgitarre und Streicherarrangement auf direktem Pfad in Richtung schwermütigen Dream Pop, scheitert knapp am Abheben.
Und doch zeigt man mit einem Mal, dass aus der Ruhe oft die ausdrucksstärksten und emotionalsten Minuten geboren werden. Dann nämlich, wenn einen die elektronischen Dissonanzen von All I Need treffen, unverwechselbar prägnant, aber genau so austariert, dass Yorkes schmerzhaft tonlose Performance vollen Eindruck macht. Umso mehr macht es sich dann bezahlt, dass Philip Selway mit seinen Drums auf den ersten Blick unspektakuläre, letztlich aber perfekte Arbeit abliefert, sich in jedem Track aufs Neue ideal in das ruhige, harmonische Ganze einfügt und so in der Rückschau präsenter wirkt, als es ihm bisher vergönnt gewesen wäre. Von diesem Umstand bleiben auch die beiden Leuchttürme des atmosphärischen Mid-Tempo-Rock nicht verschont. Auch deswegen kommt man weder an Reckoner, noch am frühen Favorite Jigsaw Falling Into Place vorbei. Beide widmen sich erfolgreich einem Feld, das die Band schon seit Karma Police kaum noch gewinnbringend beackert hätte. Es sind die mit beneidenswert genialer Melodie gesegneten, organisch instrumentierten Melancholie-Anfälle, unweigerlich mit düsterer Aura, ohne dass dabei Yorke den perfekten Ton verlieren oder die Band das richtige Maß an Aktion verfehlen würde. Füllige Arrangements kann man durchaus finden, mit langgezogenen Streicherpassagen, reichhaltiger Percussion und dem gern gehörten Klavier. Dass selbst Klangwände keinen Hauch von Klaustrophobie aufkommen lassen müssen, beweist dann endgültig Jigsaw Falling Into Place, dessen ambivalentes Stimmungsgemisch Beschreibungen überhaupt schwer macht. Ein bisschen von allem, was rundum zu hören und fühlen ist, vereint sich dort quasi.
Folglich ist "In Rainbows" in seiner Gänze ein Hörerlebnis - Genuss wäre trotz aller Güte, die in den Kompositionen liegt, der falsche Begriff -, das man nicht missen sollte. Nebensächlich auch deswegen, um das möglicherweise auf alle Zeit beste Werk der Briten zu hören, zuallererst aber, weil sich in der LP eine Seite von Radiohead verbirgt, die in dieser aufs Wesentliche reduzierten Einfachheit sonst nie zum Vorschein gekommen ist. Dadurch wird gerade dieses Album, dem Vernehmen nach das für die Band in der Entstehung untypischste, zu ihrem besten und formvollendetsten. So vereinen die Briten alle ihrer besten Seiten und offenbaren, indem sie sich von gewichtigen gesellschaftlichen Botschaften oder vorgefassten Plänen verabschieden, auch gleich noch eine neue, die besser nicht klingen könnte.