Mit ihrem zweiten Studioalbum bleibt sich die Band selbst treu, ohne aber in ihrer Entwicklung zu stagnieren.
Wenn uns Georgias wichtigster Export etwas gelehrt hat, dann die Tatsache, dass Rockmusik auch in den Achtzigern nicht komplett am Sand war. Die vier legendären Gentlemen Michael Stipe, Peter Buck, Mike Mills und Bill Berry sind es nämlich, die mit ihrer Arbeit in dem verhassten Jahrzehnt die Grundsteine für die Entwicklung des sogenannten Alternative Rock gelegt haben, oder zumindest maßgeblich daran beteiligt waren. Nach ihrem glorreichen Debüt Murmur 1983 machte sich die Band sofort an die Aufnahmen um ein weiteres Kunstwerk abzuliefern. Wie viel Kunst dann wirklich in dem zweiten Longplayer steckt, sei erstmal dahingestellt.
Im Wesentlichen stellt Reckoning den logischen Nachfolger zum, von Kritikern zwar geschätzten, aber an der breiten Masse vorbeigegangenen, Einstand dar und knüpft nahtlos daran an. Peter Bucks Rickenbacker spuckt immer noch diese angenehmen Byrds-infizierten 'Jingle Jangle'-Töne aus (die auch Johnny Marr von den Smiths etwa zur selben Zeit beeinflussen sollten) und ist präsent wie eh und je. Gemeinsam mit dem immerzu aktiven Bassisten (ja, das soll es auch geben) und Gelegenheitssänger Mike Mills bildet er auch hier das kreative Duo, das der Band diesen einzigartigen Klang verleiht.
Auch Frontmann Michael murmelt weiter seine intelligenten Sätze, die weiterhin allesamt große Interpretationsfläche aufweisen.
Obwohl hier alles beim Alten scheint, entfernt sich der Zweitling doch irgendwie vom etwas klammen, New Wave-angehauchten Sound von Murmur und erzeugt trotz einem Mix aus melancholischer Sehnsucht und düsteren Texten eine Art Aufbruchsstimmung. Allein schon klanglich wirkt es ausgefeilter und besser produziert, ohne sich jetzt an dem gängigen, zu glatten Produktionswahnsinn zu orientieren.
Großartig etwa die Percussions in Time After Time (AnnElise). Gespielt natürlich von Drummer Berry, der auch sonst einen saubereren Auftritt hinlegt als noch ein knappes Jahr zuvor. Bleiben wir gleich bei besagtem Track, der ist nämlich ein wirklicher Hammer. Mit dichten Gitarrenklängen durchwoben und mit dem mitreißenden Getrommel gesegnet, verdeutlicht die Gruppe ihren Anspruch auf musikalische Vielfältigkeit.
Bleiben wir aber erstmal bei der angesprochenen Melancholie. Gerade der bekannteste Song des Albums, So. Central Rain dient als Paradebeispiel für diese Thematik. Mit den berührenden Zeilen
"Did you never call? I waited for your call
These rivers of suggestion are driving me away
The ocean sang, the conversation's dimmed
Go build yourself another dream, this choice isn't mine
I'm sorry, I'm sorry, I'm sorry, I'm sorry"
bohrt dieser sich tief in die Herzen der sensiblen Fans. Wofür sich Stipe eigentlich entschuldigt bleibt unklar, man nimmt die Entschuldigung aber gerne an.
Den größten Moment hat die Band allerdings einmal mehr mit einem politischen Statement. Der grandiose Opener Harborcoat, mit einem treibenden Beat ausgestattet, wartet trotz des vermeintlich nichtigen Titels mit einer emotionalen Tiefe auf, die durch den zum Nachdenken anregenden Text noch einmal verstärkt wird. Ganz großes Kino!
Grundsätzlich legten die vier Herrschaften stets Wert auf ausgeklügelte Texte, die sich einem nur selten vollständig erschließen. Das ist auch auf der zweiten LP der Fall. Mysteriöse Mantren vortragend, nuschelt sich Stipe von Track zu Track und lässt die aufmerksamen Hörer mit dicken Fragezeichen über den Köpfen zurück. Aber das mögen die Fans doch an der charismatischen Band. Makellose Textfetzen wie "I fell by your bed once, I didn't want to tell you / I should keep myself in between the pages / Of the green light room if we fall by the side" vom etwas trägen Camera oder "This mellow, sweet, short-haired boy woman offers, pull up a seat / Take in one symphony now, we've just begun to battle / Wrap your heel in bones of steel, turn the lake a twist of color / Autumn waited, hold it to you, swim the color, come another" vom starken 7 Chinese Bros. sagen ohnedies schon einiges aus. Da muss man gar nicht immer wissen worum es geht.
Dass die Band schon früh gerne mal den einen oder anderen zum Mitsingen animierenden Stadionrocker auf ein Album wirft, bezeugt die zugängliche Single (Don't Go Back To) Rockville. Dass diese leichter verdauliche Angelegenheit einigen späteren seiner Art (ja, ich meine dich Stand!) überlegen ist, spricht klarerweise auch für Reckoning.
So viele schöne Aspekte auf die 10 Tracks verteilt, da kann man schon mal ins Schwärmen kommen. Trotzdem gibt es hier ein paar Kleinigkeiten zu bemängeln. Dem Album fehlt es an der Konstanz von Murmur, an dem es natürlich gemessen wird. Bis auf das überlange Camera und mit Abstrichen auch Closer Little America funktionieren alle Tracks prächtig und bilden ein homogenes Gesamtbild.
In einer Zeit, dominiert von Bombast-Produktionen wie Michael Jacksons Thriller, bleibt die größte Rockband seit den 70ern ihrem Konzept treu. R.E.M. waren zu Beginn ihrer Karriere zwar längst nicht dermaßen anerkannt, wie sie es spätestens durch Automatic for the People 1992 geworden sind, jedoch stehen sie zu jener Zeit nach wie vor für einen einzigartigen und erfrischend melancholischen Rocksound, der kraftvolle Gitarrenriffs und anspornende Beats mit immer leicht an den Herbst angelehnten Melodielinien zu verbinden weiß.