von Kristoffer Leitgeb, 05.10.2019
Die musikalische Zwischenwelt klingt oft nach Fehltritten, zu selten nach ausgespielten Stärken.
Albumunspezifisch lässt sich festhalten, dass es Zeit braucht, sich an Phil Collins zu gewöhnen, wenn man ihm einmal länger ausgewichen ist. Das hat aber nicht einfach mit den Schattenseiten der 80er zu tun, die Schwierigkeiten des Collins'schen Klangkosmos sind irgendwie ganz eigene. Und das hat weniger mit seiner kommerziellen Ausnahmestellung und daraus folgenden Omnipräsenz in der Dekade der Künstlichkeit zu tun. Eher lässt sich das darauf zurückführen, dass seine Solokarriere nicht Fisch und nicht Fleisch ist, anscheinend nicht in der Zielsetzung, die hinter den Alben steht, und schon gar nicht in der Qualität der Songs. Womöglich liegt dieser Eindruck - und damit biegen wir wieder Richtung Album ein - aber auch einfach am speziellen Platz begründet, den "Hello, I Must Be Going!" in der Diskographie des Briten einnimmt. Denn der zweite Longplayer klingt so sehr nach einem Übergangsalbum, wie das der Fall sein kann. Eine LP, die nicht mehr hier, aber auch noch nicht wirklich da ist.
Das macht es umso komplizierter, weil man es meistens weder mit der noch verhältnismäßig geerdeten Emotionalität des Debüts zu tun hat, noch mit der penetranten Oberflächlichkeit der Nachfolger, sondern stattdessen mit einer Kreuzung aus beidem, die entsprechend unbequem wirken kann. Es treffen Songs aufeinander, die das so vielleicht weniger sollten, genauso wie sich in den einzelnen Tracks Stilmittel vermischen, die miteinander nicht in optimaler Weise harmonieren. Es braucht auch nicht mehr als zwei Songs, um zu verstehen, wie das gemeint ist. Collins startet, wie er schon ein Jahr davor gestartet ist, nämlich mit einem länglichen Intro, dem atmosphärischen Aufbau verpflichtet und Einleitung zu einem gesetzten, auf Gesang, Drums und Keys reduzierten Ganzen. I Don't Care Anymore ist in gewisser Weise ein zweites In The Air Tonight, nur eben weniger unter die Haut gehend, weniger dramatisch auf die richtige Art. Vielleicht liegt das daran, dass einem die in klassischer Collins-Manier um die Ohren fliegenden Drums irgendwann zu viel sind, vielleicht hätten auch etwas melodischere Züge diesem Song gut getan. Naheliegender ist, dass einen die Monotonie irgendwann einfängt, nachdem man zum gefühlt hundertsten Male "I don't care anymore" entgegen gesungen bekommen hat, was selbst in der hier gebotenen leidenschaftlichen Form zunehmend bedeutungslos und uninteressant wirkt. Man wird zwar zum Schluss noch mit einem ordentlichen Gitarrensolo von Daryl Stuermer vertröstet, ein bisschen leidet die wirkmächtige Dramatik des Songs allerdings darunter, dass er auch gut nach der Hälfte hätte aus sein können.
Bei I Cannot Believe It's True ergibt sich dieses Problem weniger, man hat es aber auch mit einem deutlichen Richtungsschwenk zu tun. Plötzlich sind da die hellen, aus den Sphären von Earth, Wind & Fire entstammenden Bläsersätze, da ist organischere Drum-Handwerk zu hören und darüber nicht nur sparsamer Synth-Einsatz, sondern ein geschmeidiger Collins, der sich perfekt im R&B-durchwirkten Pop-Rock ausbreitet und eine starke Vocal Hook mitbringt.
Trotz zutiefst unterschiedlicher Gangart gelingt allerdings beides, wie auch in der Folge durchaus beide Seiten phasenweise überzeugen. Don't Let Him Steal Your Heart Away ist eine der wenigen wirklich gelungenen Balladen, die Collins nach "Face Value" noch gelungen sind. Zwar ist das Schnulzenpotenzial gewaltig in diesem Setting, das vom Klavier und dramatisch dahinter versammelten Streichern dominiert wird, noch dazu irgendwann zu dahinstampfendem R&B mutiert. Doch die Übung gelingt, weil Collins der Drahtseilakt gelingt, Stilbrüche gerade noch rechtzeitig einzubauen, um keine Übersättigung zu riskieren, und weil seine gesangliche Performance wie so oft auf dieser LP mit zu seinen besten zählt. Am anderen Ende des Spektrums wartet It Don't Matter To Me, das "...But Seriously" in bestmöglicher, weil möglichst organischer Form vorwegnimmt. Die Gitarren janglen locker dahin, dazu kommen von der ersten Sekunde prägnante, gerade nicht zu aufdringliche Bläser und eine ideal galoppierende Rhythm Section, insbesondere eine starke Bass Line. Diese Dynamik hilft und sie nimmt vorweg, was auf dem kommerziellen Höhepunkt von Collins' Karriere überdeutlich werden sollte: Im aufpolierten Up-Tempo-Format ist er tatsächlich besser, wenn das Vergleichsobjekt nicht ausgerechnet In The Air Tonight heißt. Das gilt sogar dann, wenn er mit You Can't Hurry Love eigentlich nicht mehr macht, als den Klassiker der Supremes 1 zu 1 nachzuspielen. Man wird wohl niemanden finden, der behauptet, Collins würde hier besser klingen als the one and only Diana Ross, genauso wie Phil Collins unterstützt durch Backgroundgesang von Phil Collins weniger verführerisch daherkommt als das Gesamtpaket der Supremes. Doch die luftige Produktion, die dem Motown treu bleibt, hilft lautstark mit bei einem gelungenen Track, der allein schon deswegen sehr gut wegkommt, weil er im Vergleich zu vielen anderen hier erfreulich naturbelassen klingt.
Die Luft wird allerdings dann auch schon relativ dünn. Like China hätte musikalisch das Zeug zu einem starken Song, ähnelt stilistisch I Cannot Believe It's True, wird aber von Collins' anstrengendem Akzent und dem kindisch-kitschigen Text zunehmend schwieriger gemacht. Thru These Walls ist dem gegenüber das beste Beispiel dafür, warum die stimmungsvollen Minuten des Albums kaum stimmungsvoll sind und vor allem warum sie nicht wirklich mit dem Vorgänger mithalten können. Anfangs mit dezenter Percussion und leichten Synths ausgestattet, implodiert der Song komplett, wenn Collins einmal mehr seine Liebe zum Gated Reverb zeigt und entsprechend überlaute Drums mit ähnlich deplatzierten, dissonanten Keys paart, um was auch immer zu kreieren. Ab dem Moment ist die Sache tot, auch wenn man die Strophen trotz ihrer middle of the road Natur nicht so schlecht finden muss. Das gilt in der Form eigentlich auch für The West Side, nur dass absolut keinen Platz und keine wirkliche Daseinsberechtigung für das jazzige, langatmige Instrumental, dem das dominante Saxophon genauso wenig steht wie der abseits davon herausstechenden Blechbläsersatz. Da macht ein guter Beat auch nicht mehr viel aus, wenn eigentlich nichts positiv in Erinnerung bleibt.
Man ist also hin und her gerissen, ohne ganz genau zu wissen, wohin die Reise gehen soll. "Hello, I Must Be Going!" ist ein Album, das nicht sonderlich gut darin ist, einen positiven Eindruck zu hinterlassen. Es klingt einfach zu viel falsch oder zumindest am falschen Platz. Möglicherweise ist es nicht einmal das im eigentlichen Sinne, sondern eher die Tatsache, dass die LP eine einheitliche Richtung vermissen lässt und deswegen weder mit emotionaler Dramatik noch mit starken Hooks und 80er-typischer, überbordender Produktion wirklich punkten, weil beides einfach nicht zusammenpasst. Das führt schlussendlich dazu, dass das Album nicht, wie man es sich wünschen würde, ausgewogen klingt und die beiden Pole des Phil Collins in Einklang bringt, sondern dass ein Hin und Her und ein Haufen fragwürdiger Klänge die Stimmung drücken. Sie bleibt aber trotzdem positiv genug, um anzuerkennen, dass bei Zeiten die Qualitäten des Briten gelungen zur Geltung gebracht worden sind und man den einen oder anderen Song gut und gerne unter seine besten reihen kann. Und das hat doch ein bisschen Gewicht, gerade auch weil die fehlende Konstanz nicht nur dieses Album, sondern Collins' ganze Karriere prägt und damit auf all die Misstöne und Geschmacksverirrungen fast genauso viele großartige Minuten kommen.