von Kristoffer Leitgeb, 25.10.2019
Interne Problembewältigung als Katalysator für große Gefühle und ein souveränes Karrierehoch.
Ich vermute hier ein bisschen Langeweile heraufziehen, wenn wieder einmal, wie es doch fast immer ist, die negativen Emotionen, die zwischenmenschlichen Spannungen, die noch ein bisschen post-adoleszente Selbstfindung für künstlerische Höhen sorgen soll. Das kommt auch und vor allem in den hiesigen MusicManiac'schen Breiten so oft vor, es ist schon fast ein Klischee. Wobei, was heißt "fast"? Vielleicht ist das aber auch fast ein Muss bei einer Band wie Paramore, die dem Pop-Punk entsprungen ist. Da kommt man ja doch nicht vorbei an dieser an der Schwelle des wirklichen Erwachsenseins stattfindenden Introspektion und allem, was so damit einhergeht. Mit Blick auf diesen sehr begrenzten Mikrokosmos des Pop-Punk öffnet das Wiederholungen und ausgelutschten Themen Tür und Tor. Andererseits muss man ehrlicherweise eingestehen, dass die gesamte Musikwelt üblicherweise mit einer relativ eingeschränkten Themenwahl zu kämpfen hat, was nichts daran ändert, dass der Kreativität und der behänden Handhabung kaum Grenzen gesetzt sind. Paramore nutzen das auf "Brand New Eyes" mitunter äußerst produktiv aus.
Wobei man schon relativierend anmerken sollte, dass es nicht so ist, als wären die US-Amerikaner nicht bereits von einem ganz guten Level gestartet. Durchbruchsalbum "Riot!" war jetzt kein Mahnmal des Tiefgangs oder musikalisch revolutionär, aber es hatte die Hooks und die Riffs, um einen gut zu unterhalten, und mit Hayley Williams' sympathischer Stimme und den dazu passenden, angriffigen, oberg'scheiten Texten auch das nötige atmosphärische Unterfutter, um einem locker die Zeit zu vertreiben. Relativ offenkundig ist das nicht zwingend das primäre Ziel des Nachfolgers. Dabei bringt das Album zu Anfang immer noch das gleiche Händchen für vereinnahmende Melodien und gute Gitarrenarbeit mit. Careful und Ignorance bieten einem im Kern immer noch von Power Chords definierten Pop-Punk, allerdings in etwas aggressiverer Form, mit Blick auf spielerische Präzision und emotionale Verwerfungen, die nicht mehr nur nach jugendlicher Rebellion auf dem weiten Schlachtfeld der Romantik klingen.
Aber es ist ein fließender Übergang, was nur zu goutieren ist, weil die etwas härteren Up-Tempo-Tracks auch früher ein sicherer Treffer für die Band waren. Auch hier ist das so, zumal einem schnell auffällt, dass all das geerdeter und ernster klingt, angefangen bei Williams' um Nuancen tiefer gelagerter Stimme, vor allem aber im Hinblick auf den trockenen Rock, der sich ein bisschen vom hellen, mitunter gar mit ein bisschen Elektronik spielenden Sound des Vorgängers abhebt. So bilden auch hier diese Tracks das solide, tragfähige Rückgrat des Albums, in bester Manier gleich zu Beginn, aber auch später mit Brick By Boring Brick oder Looking Up äußerst kurzweilig und in der richtigen Gangart.
Die Volltreffer des Albums sind allerdings in den nuancierteren, ruhigeren und definitiv gefühlsbetonteren Minuten zu finden. Das viel zu spät als Single gewählte Playing God ist dahingehend mit seinen spärlich ausstaffierten, trocken gezupften Strophen herausragend, auch weil der kantige Riff im Refrain das Idealmaß an Härte mitbringt und die offenen Zeilen über bandinterne Schwierigkeiten überzeugen. Am Fokus auf Williams' leidenschaftlich starke Performance ändert das wenig, selbst die immerwährend lauten Drums und die im Duett besungene, reichlich vollgepackte Bridge können gegen das Charisma und die emotionale Darbietung der Frontfrau nichts ausrichten. Einen wohl ewigen Höhepunkt erreicht die Band dahingehend mit der späten Ballade Misguided Ghosts, die sich ausschließlich auf großartig einfache Akustikzupfer verlässt und diese noch dazu möglichst unbearbeitet belässt, sodass allein dadurch atmosphärisch schon für sehr viel gesorgt ist. Den Rest erledigt Williams mit einer beeindruckend unspektakulären, bisweilen zu Tränen rührenden Vorstellung, die den starken Text großartig in Szene setzt:
"I'm going away for a while
But I'll be back, don't try and follow me
Cause I'll return as soon as possible
See I'm trying to find my place
But it might not be here where I feel safe
We all learn to make mistakes
And run
From them, from them
With no direction
We'll run from them, from them
With no conviction
Cause I'm just one of those ghosts
Traveling endlessly
Don't need no roads
In fact they follow me
And we just go in circles"
Ein reichlich langer Auszug, aber schon das ist ein Kompromiss, weil das Gesamtbild aller Zeilen noch umso besser wirkt. Überhaupt kann man davon sprechen, dass die Texte hier eine Stärke sind, verbinden sie doch auf Albumlänge gelungen ein bisschen Sturheit und Rachegelüste, ein bisschen persönliches Wachstum, Enttäuschung, Verlust und doch den einen oder anderen optimistischen Moment, auch wenn sich die hauptsächlich dem Banddasein widmen.
Trotz dieser inhaltlichen Stärken sind die ruhigen Minuten nicht nur die größten Stärken, sondern auch die größten Schwächen der LP. The Only Exception ist zu süßlich und poliert, erinnert frappant an einen kindlichen Song von Taylor Swift und kann damit zwar melodisch, aber so überhaupt nicht atmosphärisch punkten. Das ist dann zu viel kitschiger Teen-Pop und zu wenig des zwar melodramatischen, aber weniger im Schmalz versinkenden Emo-Pop, der sonst dominiert. Wobei auch der, wie es gegen Ende das schleppende All I Wanted beweist. Das kommt mit seinen schwergewichtigen Riffs als Ballast im Refrain und seinem banalen Text nie so ganz vom Fleck, selbst wenn man dem Song produktionstechnisch absolut nichts vorwerfen kann.
Übrigens ist das etwas, das sich generell über "Brand New Eyes" sagen lässt. Da wurde mit Rob Cavallo sehr gut gearbeitet, um dem, was mit dem Vorgänger vorbereitet wurde, einen dünkleren, schweren, schlichtweg ernsteren Drall zu geben und gleichzeitig mehr Fokus auf die Feinheiten vor allem an der Gitarre gelegt. Gar nicht zu sprechen davon, wie stark sich Williams durchwegs in die Songs einfügt. Die charakterstarke Dame an der Spitze der Band ist sicherlich auch eines der großen Asse, mit denen Paramore hier auftrumpfen, obwohl man genug Songs anzubieten hat, die auch auf allen anderen Ebenen zu überzeugen wissen. Nachdem man sich dabei auch, aber definitiv nicht nur auf die früher gezeigten Stärken konzentriert, stattdessen in emotionaleres und ruhigeres Terrain vorstößt, hinterlässt all das einen umso besseren Eindruck. Schlussendlich läuft Vieles einfach darauf hinaus, dass es Paramore gelingt, einen hier mit dem einen oder anderen Song nicht einfach nur zu unterhalten, sondern einen gefühlsmäßig alles nur nicht kalt zu lassen. Und wenn das einmal gelingt, kann nicht mehr so viel schief gehen.