von Kristoffer Leitgeb, 14.11.2020
Ein Gitarrengott und ein Irrer am Mikro präsentieren: Die volle Wucht der Wut im handlichen Albumformat.
Es ist wohl ohne Zweifel eine der ureigensten Aufgaben von Musik - und zwar sowohl aus Sicht des Musikschaffenden als auch aus der des Genießenden -, Emotionen zu erfassen, zu kanalisieren, zu verstärken, zu versinnbildlichen. Tausende, Millionen, wenn nicht Milliarden an Liedern wurden beispielsweise geschrieben, um in der einen oder anderen Form der Liebe Herr zu werden und sie hör- und fühlbar zu machen. Etwas weniger wohl, um Wut und Aggressivität zu verkörpern und der Menschheit näher zu bringen, auch wenn das letztlich nicht weniger Wert haben muss. Auch die destruktiven Seiten unseres Gefühlslebens dürfen gerne repräsentiert und nach vorne gekehrt werden, solange dabei keiner zu Schaden kommt. Insofern haben Pantera alles Recht dazu, sich in ihrer Hochphase primär der Verkörperung dieser Emotionen zu widmen und das so weit zu perfektionieren, dass die ganze Metalwelt ins Staunen gerät. Womöglich sind ein paar dabei zu Schaden gekommen, weil die Trommelfelle die erbarmungslose Härtemaschinerie der Texaner nicht überlebt haben, aber das ist als unbeabsichtigter Kollateralschaden zu werten, der nicht weiter berührt. Viel wichtiger ist ja auch, dass die Kanalisierung der Wut mit "Vulgar Display Of Power" eine LP von unfassbarer Stärke hervorgebracht hat.
Ohne auch nur eine Sekunde daran zu denken, die Arbeit von Bassist Rex Brown und insbesondere die hämmernden, alles im Umfeld durchdringenden Drums von Vinnie Paul ungewürdigt zu lassen, ist es aber primär die größte Stunde für zwei Herren: Phil Anselmo, die unfassbar kraftvolle, dem Irrsinn nahe klingende Stimme der Band, und natürlich noch einmal umso mehr die von Dimebag Darrell, dem autodidaktischen Gitarrengroßmeister, der wie kein Zweiter brutale Härte und virtuosen Groove zu vereinen wusste. Diese vier erschaffen hier zusammen etwas, das einen ohne Übertreibung bei entsprechender Lautstärke aus den Latschen haut. Nebst aller Virtuosität an den geheiligten sechs Saiten ist das hier Gebotene vor allem eine kaum hinreichend einzufangende Komprimierung aller verfügbaren Wut und Aggression, die die Welt so zu bieten hat. Ob im gediegenen Mid-Tempo-Format oder im Thrash-Metal-High-Speed, ob geprägt von einem bluesigen Solo oder ungewohnt wenig verzerrten, atmosphärischen Gitarrenzupfern, es ist immer eine brutale, alles durchdringende Angelegenheit. Insofern ist "Vulgar Display Of Power" nicht nur eine Fortsetzung der Neuerfindung, die die Band mit "Cowboys From Hell" schon so bravourös gemeistert hat, es ist definitiv noch einmal eine deutliche Steigerung in Sachen Kompromisslosigkeit, Härte und klanglichem Nachdruck. Dass dem so ist und die dröhnenden Riffwände noch mächtiger und eindringlicher geworden sind, merkt man ungefähr nach den ersten zehn Sekunden von Opener Mouth For War. Da braucht es nicht einmal bis zu Anselmos wütend ins Mikro gebrüllten, teilweise tiefen Growls angenäherten Vocals, um zu merken, dass nicht gespaßt wird. Dafür reicht es, dem sich in steter Härte dahinwälzenden Gitarrentsunami von Dimebag Darrell zu begegnen, um das zu wissen.
Dessen ohnehin schon seit bald 30 Jahren immer und überall gepriesenes Gitarrenspiel, erweist sich in der vielschichtigen - sowohl betreffend der übereinander gelagerten Gitarrenspuren und der stilistischen Variation - Ausführung als Garant dafür, dass auch die unweigerlich schlauchende Härte des Albums nie zu einer reinen Überdosis an Lärm verkommt. Zwischen erdrückenden, tiefen Gitarrenwänden, der einen oder anderen, fast zum Aufatmen geeigneten Phase atmosphärisch-bluesiger Akkorde und seinen mal von virtuoser Fingerfertigkeit, mal von beeindruckender Ausdrucksstärke geprägten Soli ist viel Platz für unterschiedliche Eindrücke, die alle letztlich nur auf zwei Dinge hinauslaufen: Dem Typ ist an seinem Instrument nichts anzuhaben und derartige Aggressivität kann schon auch unpackbar mächtig und verführerisch klingen. Selbst wenn die unfassbaren High-Speed-Riffkanonaden von Rise oder Fucking Hostile einem genauso in bleibender Erinnerung bleiben wie die sphärisch verhallenden Akkorde von This Love und Hollow oder der mächtige, groovige Riff von Walk ist es damit eigentlich müßig, einzelne seiner Darbietungen als besonders stark hervorzuheben. Er ist einfach nie auch nur in der Nähe nachlassender Stärke.
Und weil Vinnie Paul ziemlich gut darin ist, pausenlos seine Drums zu malträtieren und deren Material an seine Grenzen zu bringen, sodass man sich auch in schwergewichtig trabenden Minuten mit explosivem Getrommel konfrontiert sieht, und Anselmo keine Anstalten macht, seinen Stimmbändern irgendwann einmal eine Pause zu gönnen, ist das Kritikpotenzial ziemlich gering. Das, was einem Schwachpunkt am nächsten kommt, ist das etwas träge geratene Live In A Hole, dessen sich langsam ausbreitender Riff eher störrisch mit dem dazwischen singenden Anselmo und plötzlich einsetzenden, drückenden Stakkatophasen abwechselt. Damit war es das dann aber eigentlich auch schon. Nicht nur, dass der Unterbau dieses Albums unglaublich stabil ist, es ist eigentlich gar kein Unterbau. Während einzelne Songs wie die beiden Gipfel jeglicher Kompromisslosigkeit, Fucking Hostile und Rise, besonders herausstechen, ist es die Masse durchgehend starken Materials, die einen fast noch mehr beeindruckt.
Ähnlich imposant sind die inmitten des Gitarrengewitters plötzlich auftauchenden atmosphärischen Momente, die in Form von This Love und Hollow gleichermaßen dazu geeignet sind, einen musikalisch auf andere Gedanken zu bringen und einen doch wieder zu verstören. Insbesondere This Love spielt nämlich mit einem allzu deutlichen Kontrastprogramm, bei dem den dank Anselmo leicht unbequemen, dank Dimebag Darrells für einmal unverzerrter Gitarre gefühlvollen Strophen ein kurzer, brutaler und abgehackter Härteausbruch folgt. Diese Extreme durchziehen auch die langgezogenen, rein instrumentalen Passagen: Ein großartiges, stimmungsvolles Gitarrensolo hier, drückend schwere, raue und zwischen manisch hohem Tempo und brachialem Trab wechselnde Riffwände andererseits. Closer Hollow erinnert in seiner Struktur dagegen eher an Metallicas One, teilt den Song sauber in eine sphärisch-bluesige erste Hälfte, in der Anselmo seine raue Stimme für sauberen Gesang gebraucht, und eine zweite, in der der gewohnte Härteexzess wartet.
Bei aller Lobpreisung sei jedoch eingestanden, dass es von meiner Warte generell schwer fällt, die Qualität dieses Albums und der Erfahrung, die es einem bringt, wirklich passend zu beschreiben. Deswegen und weil ein Haufen Exkursionen in die wunderbare Welt von Dimebag Darrells eigenwilliger Virtuosität an der Gitarre und seinen unterschiedlichen Spielarten daran nichts ändern würde, gibt es eigentlich nicht mehr zu schreiben. "Vulgar Display Of Power" gehört einfach in voller Länge erlebt, um dessen unfassbare Durchschlagskraft, dessen Nachdruck und emotionale Eindringlichkeit auch am eigenen Leib zu erfahren. Auf dieser Ebene wird man wenig Vergleichbares dieser Stärke finden, das sich in solche einer Beständigkeit als klanglich erstklassig und ungeahnt aggressiv erweist, auch wenn die dahingehend verhältnismäßig extreme Ausrichtung der LP zwangsläufig nicht jedermanns Geschmack treffen wird. Ein bisschen Überforderung mit der Wucht, mit der einem das texanische Quartett entgegendröhnt, ist auf alle Fälle einzuplanen. Hat man die überwunden, wartet aber ein Album, das in Qualität und Form kaum getoppt werden kann.