von Kristoffer Leitgeb & Mathias Haden, 26.01.2014
Ungerechtfertigte Lobeshymnen, Ohrwurm-Melodien und eintöniger Spaß. Kurz: Die "Nevermind"-Kontroverse.
Sie haben den Rock gerettet, uns von den Ketten des Synth Pop und Hair Metal befreit. Sie sind die musikalischen Helden der 90er: Kurt Cobain, Krist Novoselic und Dave Grohl. Zumindest lautet so die einhellige Meinung der selbsternannten Fachleute. Und doch, "Nevermind" ist vor allem eines: Kein Meisterwerk.
Ok, das gilt nur dann, wenn man sich die LP im Rückblick ansieht. Denn mit der Zeit sind zu viele Bands aufgetaucht, die bessere Punker, bessere Non-Konformisten und allen voran bessere Rock-Musiker waren. Allerdings, da waren eigentlich auch davor schon genug da. In Wahrheit ist nämlich der große Verdienst dieser Band, dass sie die Musikwelt mit Smells Like Teen Spirit aus den ungeliebten 80ern und damit wohl aus ihrer schwierigsten Schaffensperiode herausbefördert hat. Schön und gut, das stellt sie aber nicht gleich an die Spitze der Rock-Front, noch nicht einmal in den 90ern, ja, noch nicht einmal in ihrer eigenen Diskographie. Denn betrachtet man die LP genauer, findet man vor allem dreierlei: Simpelste, eintönige Songstrukturen, unverständliches Gesinge und, wenn man's dann versteht auch wenig beeindruckende Texte.
Was man ihnen zugestehen muss, ist die Fähigkeit charttauglichen, trockenen Rock abzuliefern, der mit dem Intro-Riff von Smells Like Teen Spirit, dem genialen Gitarren-Sound von Come As You Are oder dem Top-Bass in Lounge Act so manch nette Minute zu bieten hat. So stark aber der Beginn mit einer geballten Front an Singles ist, eine Kreativitäts-Explosion wird einem nicht aufgetischt. Gerade die von allen Seiten bejubelte Hit-Single zeigt mit ihren fünf Minuten, wie groß die Schwäche hinter den ewig gleichen Riffs, dem ewig gleichen simplen Beat und dem nervigen Genöle von Cobain sein kann. Es ist ein starker Song, keine Frage, aber nirgendwo nahe dessen, was ihm das Rolling Stone heute zugesteht.
Die guten Momente überwiegen trotzdem. Denn die Akustik-Nummer Polly, vielleicht die einzige, die wirklich Emotion vermittelt, geht ähnlich gut auf, wie die markanten Ausbrüche in den Refrains von Lithium oder der simple Punk-Track Lounge Act. Dafür gibt's dann aber auch eine kolossale Schwachsinnigkeit in Form von Territorial Pissings, einem Mix aus grässlich konfusem Krach und Cobain in seiner mühsamsten Form, oder das träge On A Plain, das unpassend poppig wirkt. Dass trotzdem das meiste hier zumindest in den Grundzügen Spaß macht, verdankt man der Lockerheit hinter dem Album und Cobains Fähigkeit eingängigste Melodien zu schreiben, die einen ganz gerne mal ein wenig verfolgen können. Deswegen gibt's auch bei Lithium und Drain You trotz unvorteilhafter Songlängen nicht zu viel herumzumaulen, obwohl man selten einmal dazu kommen könnte, über irgendwelche großartigen Momente zu staunen.
Ja, sie haben den 90ern und deren Musik-Fans einen Dienst erwiesen, damit, dass sie nicht einfach dort weitergemacht haben, wo die 80er aufhören. Über 20 Jahre später bröckelt aber die Fassade auch und gerade bei einem angeblichen Meisterwerk wie "Nevermind" ganz ordentlich. Zu wenig Abwechslung, zu wenig Tiefe und trotz dem ein oder anderen kurzen Anflug von Genialität zu wenig erstklassiges Material. 1991 brachte ein Nirvana-Album, dass immer wieder zwischendurch willkommen ist, aber nicht den großen Dauerbrenner.
K-Rating: 6.5 / 10
Die Nevermind-Kontroverse continued: Ein Mythos außerhalb des Zeitgeistes unter der Lupe.
Viel hat man schon gelesen über das sogenannte 'Wunderalbum' von Cobain, Novoselic und Grohl. Am ehesten fallen einem da Begriffe wie 'Meilenstein', 'Jahrhundertwerk' oder einfach nur 'das wichtigste Album aller Zeiten' ein. Zugegeben, im überschaubaren Pool von Flanellhemdträgern, die sich von Punk, Heavy Metal und Hard Rock beeinflussen ließen und zufälligerweise aus Seattle stammen, bildete Nirvana wohl die Kirsche auf dem Sahnehäubchen. Auch mag man weder den Einfluss, den diese LP zweifelsohne auf die Musikszene ausübte, noch dessen durchaus vorhandene Reize verleugnen.
Dennoch muss man sich fragen: wo steht dieses Album mehr als 20 Jahre nachdem es eingeschlagen hat wie eine Bombe?
Lässt man nämlich den musikhistorischen Hintergrund in den Geschichtsbüchern, dann bleibt nicht viel mehr als ein starkes Rockalbum, das ohne den frisch eingeführten Terminus 'Grunge' vermutlich zwar immer noch als definierendes Werk einer Ära stehen, bestimmt aber nicht im Atemzug mit Werken von Velvet Underground und Co. genannt werden würde. Bei näherem Betrachten wird nämlich auch ersichtlich, dass gerade diese, stellvertretend für ein ganzes Genre stehende, Veröffentlichung näher am Pop ist als jede andere der Band. Trotzdem, der Mix aus aggressivem Punk und eben diesem radiotauglichem Pop funktioniert besser, als man vermuten könnte.
Cobains Songwriting ist präzise, die Melodien angenehm 'eingängig', seine Stimme hat durchaus ihren Charme, auch wenn seine begrenzten Fähigkeiten auf der Gitarre unter dem Mix noch durchscheinen, Grohls Getrommel ist sowieso über jeden Zweifel erhaben und Novoselic spielt solider, als es ihm viele Leute zugestehen möchten.
Auch wenn die Auswahl an Empfehlungen bei einem Gefälle, das vom großartigen Lithium zum gewöhnungsbedürftigen Territorial Pissings (bei dessen Anfang Novoselic den Youngbloods-Song Let's Get Together zitiert und wie 'Weird Al' Yankovic klingt) reicht, nicht gerade unmöglich erscheint, muss ich meinem Kollegen ein Kompliment für die richtigen Picks zollen. Besonders das im Schatten der großen Singles stehende Drain You überzeugt mit seinem cleveren Text ("One baby to another says I'm lucky to have met you / I don't care what you think unless it is about me / It is now my duty to completely drain you / I travel through a tube and end up in your infection") und gutem Zusammenspiel nachhaltig. Dazu gesellen sich auf der positiven Seite noch die soften Polly und Something In The Way, gut durchdacht an die Enden der jeweiligen Hälften gepackt, um ein bisschen Abwechslung einzubauen und das Tempo rauszunehmen, und den überlangen Opener Smells Like Teen Spirit, den man zumindest bei den ersten hundert Durchläufen in Radio und Fernsehen noch mögen muss.
Auf der anderen Seite stehen neben dem unpassenden Territorial Pissings das langweilige Stay Away und der ermüdende Noise Hidden-Track Endless, Nameless. Vor allem stört man sich aber an der glatten Produktion, die den lodernden Wutausbrüchen irgendwie ihren Tiefgang nehmen.
So ganz überzeugt ist man dann also doch nicht vom kultisch verehrten Stück. Was auch daran liegt, dass man mit Nachfolger In Utero einen Sound gefunden hat, den man hier noch unter einer dicken Produktionsdecke vergraben hat. Ob es jetzt Balladen, kurze Wutausbrüche oder sogar der Hidden-Track sind, in beinahe jeder Kategorie hat das finale Album der Band eine überzeugende Antwort parat.
Zwanzig Jahre danach steht Nevermind immer noch für einen starken Hybriden aus Pop und Punk, reiht sich mit seiner erdrückenden Reputation aber direkt neben Radioheads OK Computer zu den überbewerteten Alben der 90er Jahre ein.
M-Rating: 7.5 / 10