Nirvana - MTV Unplugged In New York

 

MTV Unplugged In New York

 

Nirvana

Veröffentlichungsdatum: 01.11.1994

 

Rating: 9.5 / 10

von Kristoffer Leitgeb, 27.05.2017


Das letzte Manifesto eines erfolgreichen Gescheiterten.

 

Angeblich sind manche Bands vor allem Live-Bands. Also solche, die man mit ein paar Hundert bis zig Tausend anderen Individuen erleben muss, um ihren Reiz und ihre Qualität vollumfassend begreifen zu können. Hier setzt bei mir eine Art Meta-Scheitern ein, ich begreife nämlich schon das Grundkonzept dieser Idee nicht vollumfassend, dementsprechend ist das Scheitern an der eigentlichen Aufgabe keine Kunst mehr. Vielleicht wäre das Phänomen "Nevermind" aber auch wirklich fassbarer gewesen, wenn das Trio aus Seattle die ganze Sache plötzlich im eigenen Wohnzimmer zum Besten gegeben hätte. Die Toten Hosen machen sowas neuerdings. Für Nirvana wäre eine übliche Studentenwohnung allerdings auch dezent unterdimensioniert, weswegen als intimste Erfahrung mit Cobain, Grohl und Novoselic, vor allem aber mit Cobain, nur mehr das letzte Aufheulen des Frontmanns und also der Unplugged-Auftritt unter der geheiligten Schirmherrschaft von MTV bleibt. Und siehe da: Sie sind eine Live-Band!

 

Allerdings müsste man, um das durchzuargumentieren, ja eigentlich behaupten, es würde wirklich an der Studioferne der LP liegen, dass sie einen so wahnsinnig vereinnahmt. Hat aber irgendwie nichts damit zu tun. Hauptschuldiger an dieser Großleistung ist viel mehr Cobain selbst, seine wohl eher unterbewusste Entscheidung, alle mentalen Hüllen fallen zu lassen, und der unbezahlbare Schwenk weg vom Grunge und hin zu puristischem Folk-Rock. Hätte man letzteres nicht, wäre es weder ein Unplugged-Konzert geworden, noch könnte man von einer musikalischen Großtat sprechen. So ist allerdings sehr bald klar, dass der finale große Auftritt des späteren Schrotflintenschluckers zu seinem bedeutendsten werden musste. Mehr denn je ist Nirvana hier eine One-Man-Show, die einzig und allein davon lebt, dass Cobains Stimme unermesslich emotionsgeladen ist, die gesanglichen Eigenheiten und Qualitäten in den Mittelpunkt rückt und er verdammt gut Songs auswählt, um sie im akustischen Setting zum Besten zu geben.

 

Ein riesiger Fehler wäre es gewesen, hätte man irgendwann den Intro-Riff von Smells Like Teen Spirit erahnen oder die Medienabrechnung Rape Me erwarten können. Stattdessen dreht sich alles um die Pop-Seite des Trios, beginnend mit dem schon am Debüt wohltuend melodischen About A Girl. Das sticht zwar alsbald nicht mehr heraus, geht gegen die albuminterne Konkurrenz sogar recht rasch baden, gibt aber immerhin den Ton an. Und zwar einen, in dem die akustische von Kurt alles ist, Dave Grohl dagegen zu einer dezenten Zurückhaltung verdammt ist, die seine früheren virtuosen Einlagen aufs Dramatischste konterkariert. Was übrigens gut ist, denn der Kern eines mächtigen Songs war noch selten sein Drum-Part. Wo des Kerns Pudel zu finden ist, zeigt einem viel eher der berührende Auftritt von Pennyroyal Tea und das ist - wie könnte es anders sein? - ein Cobain-Solo. Andere haben garantiert schöner gesungen, manche von denen konnten im Gegensatz zum Mann aus Seattle sogar eine Gitarre sauber bespielen. Aber nur eine ganz, ganz kleine Gruppe Auserwählter hat seelischen Schmerz ähnlich spürbar werden lassen, wie es ihm in solchen Minuten gelingt.

 

Etwas irritierend ist an all dem nur, dass das am ehesten mit den Songs funktioniert, die nicht ursprünglich von Cobain stammen. Weder das auf der letzten Studio-LP noch herausragende Dumb, noch Come As You Are oder das für eine reduzierte Darbietung wie geschaffen wirkende Something In The Way sind die bewegenden Momente. Vielleicht, weil man alle in ihren ursprünglichen Versionen als vollendeter wahrnimmt, qualitativ auch gar nicht mehr viel Raum nach oben war. Die Band verzettelt sich ohnehin mit On A Plain, diesem generell durchschnittlichen Tracklist-Fehlgriff. Was den zum Akustikwerk prädestinieren würde, ist schleierhaft. Zwar lässt sich auch darüber diskutieren, warum man das Vaselines-Stück Jesus Doesn't Want Me For A Sunbeam einem eigenen Qualitätsbrocken wie Heart-Shaped Box vorzieht, die übrigen Picks überstrahlen allerdings die Vertreter des Nirvana-Kanons fast durchgehend.

Geschummelt akustisch und David Bowies Kopf entsprungen, fasziniert The Man Who Sold The World allein schon deswegen, weil die dezente und doch nicht kleinlaute Neubearbeitung viel näher an eine gefühlvolle Komposition erinnert, als es das Original getan hätte. Wie überhaupt die Abkehr von allem, was man imposant nennen könnte, die größte Hilfe für den Track darstellt.

 

Vielleicht noch etwas eher geschaffen für das intime Soundgewand sind die Meat Puppets und deren Leihgaben, Plateau und Lake Of Fire. Die Begründung dafür ist vielleicht etwas weniger freundlich gegenüber Cobain, aber die Texte sind auch einfach besser als das, was sich der Nirvana-Held einfallen hat lassen. Der Band bleibt dann aber immer noch, dass sie die idealen Interpreten solcher und ähnlicher Zeilen ist:

 

"Now people cry and people moan

Look for a dry place to call their home

Try find some place to rest their bones

Before the angels and the devils fight to make 'em their own"

 

Einer Schicksalsfügung oder auch nur seiner eigenen Genialität hat es Cobain allerdings zu verdanken, dass das Finale seines letzten ganz großen Auftritts auch gleich zur wichtigsten und besten Darbietung seiner Karriere wird. Der Uralt-Folk-Song Where Did You Sleep Last Night?, wahrscheinlich inspiriert von der Version der Gitarrenlegende Lead Belly, mutiert hier zu einem fünfminütigen Manifest. Das wohl nicht intendiert, doch Cobains brüchige, von Verzweiflung und unterschwelliger Wut gezeichnete Stimme macht den Song zu einer unter die Haut gehenden Erfahrung, die eigentlich einen dezenten und fast saloppen Anfang nimmt, nur um in der gesanglichen Präsentation den Weg frei macht hin zu sentimentalem Tiefgang und zur Legendenbildung. Das dem ganzen Album zur Seite gestellte Cello ist auch da nur lohnender Statist, um mit den tiefen Tönen nur ja nicht das zu stören, was mit gequältem Krächzen zu den möglicherweise zwei besten Live-Minuten aller Zeiten wird.

 

"MTV Unplugged In New York", das ist also in vielerlei Hinsicht ein Höhepunkt. Einer für Nirvana, einer für den Sänger Kurt Cobain, einer für die Unplugged-Welle, einer für die gesamte Live-Musik und last but definitely not least ein ganz persönlicher für den Menschen Kurt Cobain. Der offenbart auf musikalischer Weise einiges, das mit hoher Wahrscheinlichkeit zu seinem Innersten gehört. Es bleibt natürlich die Möglichkeit, dass hier einer berührt und trotzdem nur verdammt guter Interpret ist, ein bisschen ein Schauspieler quasi. Die Chancen dafür sind allerdings im Lotto-Sechser-Bereich. Weit realistischer scheint, dass es das letzte Werk des erfolgreichsten Gescheiterten der jüngeren Vergangenheit ist (dieses Duell gewinnt er übrigens gegen Michail Gorbatschow). Das hätte etwas Kitschiges, aber manchmal darf das Leben auch so sein.

 


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