von Kristoffer Leitgeb, 29.03.2019
Stückwerk zwischen Hard Rock, New Wave und Dada, das eine steile Entwicklungskurve illustriert.
Was von vielen Politikern gefürchtet wird, ist in der Musik eigentlich eher eine Adelung des Interpreten: Das Kramen in den Untiefen des in der Vergangenheit Verbrochenen. Beim einen bedeutet sowas ganz schnell das Ende der Karriere, die anderen dagegen haben das Privileg, selbst bei unvorteilhaftesten Entdeckungen darauf zu verweisen, dass man ja einfach nicht hinzuhören braucht. Das hat zwar auch dazu geführt, dass bei manch bekannterem Musiker wirklich jeder Rülpser, der irgendwann einmal aufgenommen wurde, auch unbedingt der Öffentlichkeit präsentiert werden muss. Andererseits bekommt man damit auch hin und wieder einen interessanten Einblick in das Werden und Wirken abseits der LPs und großen Hits. Ergo muss man damit leben, dass das immer wieder zu äußerst grotesken Eindrücken führen kann, die zwar selten den Blick auf den Interpreten selbst entscheidend verändern, aber einfach an sich unnötig erscheinen. Womöglich ist es auch etwas grotesk, dass Nirvana schon nach nur vier Jahren mit Studioaufnahmen einen Haufen vergessener, verworfener und übersehener Songs zusammenschnüren, um daraus ein Album werden zu lassen. "Incesticide" kämpft mit diesem Startnachteil und findet trotzdem eine Daseinsberechtigung.
Rein musikalisch gibt es eine solche eigentlich nicht, weil das Album zwar nicht ohne starke Minuten ist, effektiv aber gerade genug davon anzubieten hat, um eine wirklich gute EP zu füllen. Ausgedehnt aufs LP-Format ist man dagegen damit konfrontiert, dass zwangsläufig auch Aufnahmen dabei sind, die nicht aus den 90ern stammen. Und das ist insofern nachteilig, als dass die Band in ihrem Frühstadium zwar schon gute Songs zu bieten hatte, die aber auch beinahe alle auf "Bleach" zu finden sind. Der Rest, der es nicht dort drauf geschafft hat, wurde beinahe ausnahmslos zu Recht außen vor gelassen. Und so schaut es eigentlich generell aus mit diesen Tracks, die zwar ein Panoptikum der schrägen Wandelbarkeit anbieten, ansonsten aber selten wirklich Freude beim Anhören aufkommen lassen. Das liegt hauptsächlich an der oft spartanischen Produktion und daran, dass das Songwriting nicht viel mehr hergibt als wirklich absurde (un-)rhythmische Auswüchse und straighten Grunge ohne Abzweigungen. Wie wenig das mitunter kann, lässt sich stellvertretend an einem Song festmachen, der diese beiden Haupteigenschaften des Albums in sich vereint, nämlich (New Wave) Polly, eine noch 1991 entstandene Neuaufnahme des eigentlich starken Polly, das hier in ruhelosem Punk ohne jegliche interessante Facette aufgeht. Nicht grässlich, aber entbehrlich.
Ein Satz, der stellvertretend ist für viele Songs. Insbesondere für jene, die noch mit Jack Endino, teilweise sogar vor dem Debüt, aufgenommen wurden. Beeswax, Downer, Mexican Seafood, all das ist formloses Demomaterial, das zu sehr an fertige Songs erinnert, um irgendwie interessanter Noise Rock zu sein, gleichzeitig aber nach nicht viel mehr als Lärm mit aufgezwungener Melodie klingt. Überboten wird das noch eindrucksvoll durch das unfassbar schräge Hairspray Queen, das zwar mit coolem Riff startet und neben erratischer Rhythm Section einen - äußerst unsauberen und grobschlächtigen - Vorgeschmack auf die Gitarrenexzesse von "In Utero" bietet, gleichzeitig aber durch Kurt Cobain in seiner mühsamsten Form zerstört wird. Beklemmend gemurmelte Zeilen treffen da auf ohrenbetäubendes, ultimativ komplett sinnloses Gekreisch, das für einen Moment Yoko Onos stimmliche Exzesse im Vergleich wie Engelsgesang erscheinen lässt. Und das kann und darf niemandes Ziel sein.
Gleichzeitig gibt es andere Eindrücke auch mit Endino als Produzent. Non-Album-Single Sliver ist netterweise bereits 1990 entstanden, klingt entsprechend verfeinert und lässt erstmals erahnen, wie groß der Einfluss von Nirvana sein sollte. Denn die großartige Hook entfaltet selbst bei diesem unvorteilhaften Sound ihre Wirkung, vermittelt bereits, was ultimativ den Welterfolg bedeuten sollte: Die Vermählung von Pop-Verständnis auf melodischer Ebene und einer Vorliebe für poppig angehauchten College Rock einerseits, der dreckigen Scheiß-Drauf-Mentalität in puncto Präzision und Produktion andererseits. Zwar hier definitiv noch nicht in bestmöglicher Form, allerdings gleichzeitig stärker als so mancher verehrte Song auf "Nevermind", auch wenn Sliver immer ein bisschen unter ferner liefen erscheint. Die besten Lieder entstehen trotzdem ohne Endino, nämlich ausgerechnet in Form des Openers und Closers. Dive, rückblickend zu Unrecht zur B-Side hinter Sliver degradiert, bietet Butch Vigs starken Sound ohne die übertrieben glattpolierten Erscheinungen der Mega-LP aus dem Folgejahr. Und nicht nur das, es ist auch ein eindrucksvoller Beleg für die Effektivität der Band, wenn man sich an einfache, repetitive Strukturen hält, wie sie sonst fast nur von Velvet Underground hätten kommen können. Dann glänzt nämlich Cobain, dann glänzt auch Novoselic am Bass umso mehr. Dass hier trotzdem, genauso wie beim ambitionierteren Abschluss Aneurysm, ein gutes Stück auf das fehlt, was wenig später die größten Momente der Band bedeuten sollte, liegt wiederum hauptsächlich daran, dass es "Incesticide" in seiner Gesamtheit an atmosphärischer und inhaltlicher Tiefe mangelt. Anders gesagt, wirken die Songs entweder wie sinnloser Spaß oder unvollendete Versuche emotionaler Minuten, die erst in Zukunft wirklich gelingen sollten.
Woran es dementsprechend mangelt, ist nicht nur der innere Zusammenhang der Tracklist, der sich allein durch die Natur einer B-Sides-LP ziemlich schnell erledigt, sondern eben auch das, was man vielleicht als inhaltliches Gewicht bezeichnen kann. Was hier angeboten wird, sind eben Songs. Damit hat es sich dann aber auch. Nun muss mit der eigenen Musik nicht immer eine Weltrevolution oder ein das Vordringen in die Untiefen der Gefühlswelt versucht werden, Nirvana klingen hier aber meistens einfach nicht gut genug, um die Songs allein wegen deren Sound sonderlich mögen zu müssen. Zwar kann man sowohl dem in Richtung Garage Rock abdriftenden Been A Son als auch dem lärmend harten Rock von Turnaround einiges abgewinnen, nachhaltigen Eindruck macht aber sonst nicht mehr viel. Vielleicht auch dadurch bedingt, dass potenziell starke Kompositionen ihre Qualitäten aufgrund der Machart teilweise eingebüßt haben. Beispielsweise hätte Aero Zeppelin, wäre es 1993 und nicht 1988 entstanden, wohl verdammt großartig geklungen, genauso wie Big Long Now womöglich ein Klassiker geworden wäre, wenn nicht Nirvana, sondern Soundgarden es aufgenommen hätten. So bleiben es ordentliche Songs, die aber an zu eindeutigen Mangelerscheinungen und Macken leiden.
Vielleicht ist also der wichtigste Beitrag von "Incesticide" zur Geschichte Nirvanas die Erkenntnis, wie gut sie vor allem nach Veröffentlichung dieses Haufens ursprünglich beiseite geschobener Songs gewesen sind. Die LP macht einem eindrucksvoll klar, dass es das Trio in kürzester Zeit geschafft hat, von der erratischen Formlosigkeit zuerst zum harten, aber glatten Pop-Appeal und dann zur eindringlichen, klanglich perfektionierten Selbstoffenbarung zu finden, auch wenn man letzteres hier nicht zu hören bekommt. Übrigens legt zumindest hier überraschend wenig den Schluss nahe, dass Dave Grohl dafür mitverantwortlich gewesen wäre, was allerdings daran liegt, dass er kaum einmal dort zu hören ist, wo es wirklich Platz für ihn gäbe, um seine Fähigkeiten zu beweisen. Die Ausnahme ist Aneurysm und damit auch gleichzeitig das ambitionierteste, ultimativ gelungenste Stück Musik hier - also doch der Grohl-Faktor? So oder so, "Incesticide" braucht es nicht unbedingt, man muss es aber auch nicht meiden. Ihr Glück finden hier wohl trotzdem nur die Komplettisten und jene, die vor allem die Frühphase von Nirvana als musikalischen Meilenstein betrachten. Der Rest der Welt lauscht, findet das Gehörte ordentlich und nimmt zur Kenntnis, dass B-Sides und Outtakes meistens rechtmäßig an ihrem Platz sind.