von Kristoffer Leitgeb, 08.10.2015
Zwischen verrohtem Lärm und glatter Vergangenheit im Mainstream liegt genau eines: Nirvana (almost) at its finest!
Absolut ist gar nichts. Das hat mir zumindest vor einiger Zeit Einstein verraten. Einstein ist mein Nachbar und obwohl er sich nie beim Frisör blicken lässt und laut Eigenaussage ein lausiger Schüler war, weiß der so einiges über die Welt und Physik und lauter so Zeug, das mir zu hoch ist. Auf alle Fälle ist eben alles relativ, sogar der Absolutismus sei nichts Absolutes, sagt er. Blöd ist das, weil damit dem Reviewer das Recht auf diese in Stein gemeißelten Weisheiten verloren geht. Die gute, alte '2 to 4'-Regel kannst also getrost schmeißen. Die besagt ja, Bands genauso wie Solisten sind irgendwann im Zeitraum vom zweiten bis zum vierten Album auf dem Höhepunkt. Welcher das ist, der kommerzielle oder künstlerische, ist nicht ganz klar, das ist ja das Schöne dran. Da hat aber nicht nur Einstein was dagegen, sondern auch R.E.M., die Beatles oder AC/DC. Macht aber nichts, Nirvana stehen nämlich auf meiner Seite. Die wissen noch, wie man sich an gewisse Spielregeln hält. Jaha!
Spätestens beim letzten Satz hätte mir Cobain wohl ordentlich eine geprackt, vorausgesetzt er wäre nicht gerade zu zugedröhnt gewesen, um mehr zu tun, als einfach nur irgendwelche Songs zu schreiben oder seine Schrotflinte hervorzuholen. Wobei er ja mit den Regeln dann auch wieder nicht so sehr auf Kriegsfuß stand. Ob er sich drum gekümmert hat, wer weiß. Aber er hat sich zumindest nicht so drum gekümmert, dass er unbedingt dagegen sein musste, was eine seiner sympathischeren Seiten war. Sonst wäre auch nie so ein streichelweicher Rocker wie "Nevermind" entstanden und auch das ganze Produktionsfiasko rund um Longplayer Nummer 3 hätte man sich dann erspart, man hätte die musikalische Rohkost einfach ohne weiteren Gedanken rausgeschossen und hätte sich gefreut, es 'denen' - whoever that is - gezeigt zu haben. Die Dankbarkeit ist groß, dass das nicht passiert ist, denn die Perlen des Albums finden sich überall dort, wo noch mal nachgebessert und den Noise-Fetischisten ordentlich in die Suppe gespuckt wurde. Die klar herausgearbeiteten Strophen von Heart-Shaped Box, man verdankt sie dieser Nachbearbeitung. Das bringt einem nicht nur Cobains unzweifelhaft größte Qualität, seine Stimme, weit näher und macht auch die kathartischen Lyrics gleich um einiges verständlicher. Eigentlich gewinnt jeder, denn das Zurückgreifen auf altbekannte Massentauglichkeit bringt die Leadsingle und "In Utero" im Gesamten an einen Punkt, an dem der Sound immer noch als klarer Schritt weg von der Pseudo-Rebellion, die Teen Spirit bedeutet hat, zu verstehen ist, gleichzeitig aber den nötigen Raum und Fokus für die Einzelteile der Band bereithält, die im sonst wahrscheinlichen Distortion-Gewitter untergegangen wären.
Beide Daumen hoch dafür, man will auch nicht so wirklich wissen, wie die wunderschöne, in morbid wirkender Fröhlichkeit versinkende Ballade Dumb sonst geklungen hätte. Nein, nein, das Cello gehört dort hin, Cobains fast jegliche Gesangsfähigkeit aussperrende Stimme gehört in ihrer depressiven Monotonie ins Rampenlicht und wahrscheinlich profitiert sogar Dave Grohl davon, dass nicht alles rau klingt. Überhaupt obsiegt man mit Nummern, die so vielleicht nicht von Beginn weg auf der LP vorgesehen waren. Pennyroyal Tea mausert sich mit seinem schroffen Kontrast aus dezenten, beat-dominierten Strophen und den harten Ausbrüchen im Refrain zur Vollendung der typischen Grunge-Formel, All Apologies wirkt mit diesem rundum harmonischen Gemisch aus eigentlich fast gemütlichen Riffs, Novoselics im Einklang mitspielendem Bass und den Cello-Spuren im Hintergrund überhaupt gleich wie der präziseste Studio-Track der Band. Und Rape Me, das passt vielleicht nicht so ganz in diese Armada ruhigerer Tracks, dafür aber immerhin doch als gelungene Fortsetzung des Radio-Rocks vom Vorgänger und das sogar mit starkem Text.
Natürlich bleibt einem letzten Endes nichts über, als auch diesmal die Durchschnittlichkeit des großen Leaders Cobain als Musiker hervorzuheben. Geht halt nicht anders, immerhin scheint er weder an seinen sechs Saiten übermäßig begnadet zu sein, noch als Songwriter wirklich Wände zum Einsturz gebracht zu haben. So mäßig irgendwie, dieser Typ. Vielleicht waren das nur die Drogen, aber ohne die wäre er wahrscheinlich gar nicht zum Auftreten gekommen.
Und doch schwebt bei dem Geschriebenen die Ungerechtigkeit als unheilvoll düstere Wolke im Raum. Zur Sicherheit wird also ausgebessert: Cobain ist eh ursuper! Ist er auch wirklich, als Sänger first and foremost, ohne es selbst zu wissen auf diesem Album auch als Texter und vor allem als der Mann, dem das Wissen zu Eigen ist, wie man mit banalsten musikalischen Mitteln und Fähigkeiten großartige Momente zusammenzimmert. Und das bedeutet natürlich viel Gutes, auch wenn man selten das Gefühl hat, er hätte sein Instrument voll unter Kontrolle.
Das wird in den lauteren Momenten intelligent übertüncht mit verzerrten Riffs noch und nöcher und seinem Gejaule hier und da. Manchmal kann man damit nicht gar viel anfangen, weil ebendas so exzessiv praktiziert wird, dass von der Tiefenwirkung weniger zu spüren wäre als von einer leichten Ungemütlichkeit, die minutenlange Klänge solcher Art hervorrufen. Scentless Apprentice ist da so ein Fall, bei dem man nach fast vier Minuten vor allem an eher undefinierte Riffwände und schwer zu schluckende Schreie zurückdenkt, sonst aber kaum etwas übrig bleibt, was nicht Grohls gewohnt ausdrucksstarke Drum-Performance ist. Auf die Spitze getrieben wird dieses Spielchen in den wenigstens kurzen Very Ape und Tourette's, deren Reingehalt nicht über punkige Banalität, verpackt in verzerrter Lautstärke, hinausgeht. Ein Positivbeispiel darf es trotzdem noch geben: Milk It! Nicht der Titel des nächsten Viehzucht-Simulators, nein. Stattdessen der Track, der wie kein anderer von den genialen Drums profitiert und mit großartig unrhythmischen Strophen bei A- und B-Note stark abschneidet.
Das schreit nach einem Toast auf die drei Retter des Rock. Gut gemacht, Jungs. Auf dass ihr ewig in unseren Herzen als kongeniales Dreigespann weiterleben möchtet!
Nein, so wird das nichts, ist ja zum Speiben. So positiv darf kein Review enden, das wäre ein unverzeihlicher Stilbruch. Sagen wir, sie waren am richtigen Weg, haben sich ein wenig gebessert, haben dazugelernt und sind ein bisschen authentischer geworden. Was dann, wenn man es zum Level von "Nevermind" dazurechnet, eh wieder verdammt positiv ist. Ok, es gibt nicht so viel zu kritisieren an dieser ihrer besten Studio-LP, an dem Nirvana-Werk, das dem Künstler-Nirvana am nächsten gekommen ist. Ah, einen hab ich noch: Es sollte nicht lange ihr bester Release bleiben! Ha, so schaut's aus, nichts da mit positiven Vibes, Cobain steht da auf meiner Seite. Der weiß noch, wie scheiße alles wirklich ist.