Der Gast im eigenen Wohnzimmer - Ein deutscher Exportschlager zwischen bitteren Tränen und barocker Kunst.
Deutschlands essentielle Beiträge zur Musik kann man ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eigentlich an einer Hand abzählen. Bands wie Kraftwerk, Can oder Neu! fallen einem da spontan ein, vielleicht noch die eine oder andere aus dem elektronischen Bereich (wie Tangerine Dream), ansonsten herrscht gähnende Leere. Gut, ihr ahnt es bereits: Auch die Kölner Chanteuse Christa Päffgen alias Nico fällt in diese Kategorie. Dass die bis auf ihren Namen und den prägnanten Akzent mit der Heimat nicht viel gemein hat, geschenkt. Nichtsdestotrotz an dieser Stelle ein kleines Dankeschön an den großen Nachbarn.
Die beispiellose Erfolgsstory (ohne kommerziellen Erfolg) ist schnell erzählt. Junges, ambitioniertes Fashiongirl will die Welt erobern, versucht sich als Schauspielerin - immerhin eine kleine Rolle in Fellini's renommiertem 'La Dolce Vita' -, ehe sie die Musik für sich entdeckt und über Umwege in Andy Warhols Factory landet. Dort nimmt sie mit The Velvet Underground eines der besten Alben aller Zeiten auf und begibt sich schließlich auf eine einzigartige Reise als Solokünstlerin.
Ihr erstes Soloalbum verdient diesen Zusatz noch nicht. Das Velvet Underground-Ensemble plus Jackson Browne und Co. legen ihr hier mehr oder weniger noch jedes Wort in den Mund, die Protagonistin selbst wirkt wie ein Gast im eigenen Wohnzimmer.
Das ändert allerdings nichts daran, dass Chelsea Girl ein richtig gutes Album geworden ist. Ich muss ja gestehen, Nico lange Zeit unterschätzt, als nette, aber nicht zwingend nötige weibliche Gesangsstimme vom VU-Album wahrgenommen zu haben. Was sie aber bereits hier auf ihrem Debüt abliefert, erstickt die letzten Zweifel im Keim. Mit ihrer unverwechselbaren, tiefen Stimme, die das deutsche Banner euphorisch schwenkt und insgesamt immer ziemlich behäbig daherkommt, behält sie auf einem Trip aus barocker Instrumentierung und für sie geschriebenen Nummern aus den Federn von Lou Reed, John Cale und dem zu dieser Zeit noch unbekannten Jackson Browne die Oberhand.
Opener The Fairest Of The Seasons (von Browne und Gregory Copeland verfasst) überzeugt in seiner orchestralen Pracht, hat außerdem ein paar prägende Zeilen in petto, die sich schnell einbrennen:
"I want to know do I stay or do I go
And maybe follow another sign
And do I really have a song that I can ride on?"
In dieser Gangart verlaufen auch die restlichen vierzig Minuten. Die Gitarre dudelt, die Streicher zirpen, und doch ist es immer wieder die deutsche Sängerin, die die gesamte Aufmerksamkeit zu beanspruchen scheint. These Days kennt man ja noch von der vom Kollegen D rezensierten Browne-LP For Everyman. So ganz vermag Nicos Version auch nicht an die berühmtere Version heranzureichen, eine ordentliche Arbeit will man ihr indes aber freilich nicht absprechen, während die dritte und letzte Nummer des amerikanischen Songwriters, Somewhere There's A Feather mit üppigen Streichern punktet. Auch der fast schon obligatorische Dylan-Track I'll Keep It With Mine funktioniert als bravourös instrumentierter Chamber-Folk-Song, so richtig steht er dem deutschen Blondschopf aber nicht.
Besser läuft es mit der melancholischen - von Tom Hardin geschriebenen - Abschlussnummer Eulogy To Lenny Bruce, die in ihrer kargen Schlichtheit schon einen Hinweis auf den späteren Werdegang der Künstlerin gibt. So richtig auf den Leib geschnitten wirkt in dieser Konstellation aber ohnehin nur das von Reed und VU-Kollege Sterling Morrison verfasste, namensgebende Chelsea Girls, eine folkige Referenz an den gleichnamigen Warhol-Film, in dem Päffgen eine Rolle innehatte. Diese Reed-typische, realitätsnahe Hymne über dubiose Begebenheiten - von S&M und Drogeneskapaden - in einem Hotel, vereint die instrumentale Darbietung der Mitmusiker und Nicos passendsten Gesang mustergültig.
Mit dem avantgardistischen 8-Minutenexperiment It Was A Pleasure Then wird die Freude nur einmal richtig getrübt, als eindrucksvolles Beispiel für die Bandbreite der LP nimmt man es aber gern in Kauf. Dann aber lieber doch von Velvet Underground. Nichtsdestotrotz gibt es mehr zu bemängeln als einen mäßig geglückten Versuch. Wie eingangs schon erwähnt, klingt hier sehr wenig nach Nico. Wohin ihre Reise gehen sollte, zeigen ja die darauffolgenden, düsteren, in klanglicher Kargheit eingebetteten Alben. Würde eigentlich nicht wirklich stören, könnte man die LP von vorne bis hinten richtig genießen. Dem ist leider nicht so. Besonders die überaus präsente Querflöte macht auf Dauer zu schaffen, brachte die mit der Produktion ohnehin höchst unzufriedene Nico laut eigenen Angaben nach dem ersten Hördurchgang zum Weinen und steht nur als Symbol für ihre eigene Entscheidungsarmut am eigenen Debüt.
Chelsea Girl, Nicos erstes Soloalbum, kann man dennoch durchaus als starken Einstieg bezeichnen. Auch wenn der schlichte Sound ohne Bass- und Drumparts zwar genial, anfangs allerdings etwas gewöhnungsbedürftig erscheint und man ihre Verdrossenheit dem Ergebnis gegenüber richtig spüren kann, sind sowohl Songs als auch das Zutun der Kollegen top-notch, von Cales Violinen bis zu den aufdringlichen Flöten in Winter’s Song. Über allem thront trotz Missfallen die Stimme einer ambitionierten jungen Frau, die so viel mehr ist, als nur Deutschlands wichtigster Export der Sechziger.