von Mathias Haden, 20.06.2017
Kurz vor der Revolution: Die Kanadier eröffnen das Feuer mit geballter Unerheblichkeit.
Alle Jahre wieder kommt das Christuskind. Oder der Osterhase. Oder Karl-Heinz Grasser, der mittlerweile ebenfalls zum Kreis gern gesehener Promis zählt, die in jedem Kalenderjahr von sich hören lassen bzw. in irgendeinem Gerichtssaal Wiens abgelichtet werden. Auch auf den alljährlichen Nickelback-Verriss ist mittlerweile so sehr Verlass, wie auf das Amen in der Kirche. Natürlich ist das nicht das primäre Ziel bei der Auseinandersetzung mit einer LP der breitbeinigen Kanadier, sondern eine einigermaßen objektive Abhandlung von Fakten, musikalischer Güte und songschreiberischer Finesse. Ein Review eben. Das Problem: Sie machen es einem einfach zu schwer, diese Epigonen von Hard-Rock, Grunge und manchmal sogar tanzbarem Metal. Der Lösungsansatz: eine weitere Chance, diesmal für No Fixed Address, der zum Zeitpunkt dieser Rezension noch aktuellsten LP der Band.
Ein erster Blick auf die Trackliste verspricht jedenfalls einiges. Wenngleich Titel wie Million Miles An Hour, Edge Of A Revolution und What Are We Waiting For? (interessanterweise gleich die ersten drei Tracks) weniger auf akustische Heldentaten hindeuten, so schüren sie doch die Hoffnung auf reflektierte sozialkritische Beobachtungen - womöglich der neuen Königsdisziplin des Quartetts um Chad Kroeger, der hier auf MusicManiac keinerlei Häme befürchten braucht. Man ist auf alle Fälle äußerst gespannt.
Und hätte besser ein zweites Mal auf die Trackliste geschaut. Dann wäre einem auch der bisher einzige Gastauftritt auf einem Nickelback-Album nicht entgangen. Ausgerechnet Flo Rida, der Partylöwe und Pseudo-Rapper aus dem sonnigen Florida, muss es aber auch sein, der No Fixed Address veredelt. Bevor hier aber weiterhin gemutmaßt, in weiterer Folge vermutlich sogar ein apokalyptischer Dance-Metal-Hybrid prognostiziert wird, lassen wir lieber direkt das Album und seine Meriten sprechen.
Und tatsächlich... es startet alles mit einem wuchtigen, energetischen Riff. Es sind zwar nur ein paar Sekunden unbeschwerter Gefühlswelten. Bis dieser Riff entschwindet und sich später in einem monotonen Klangmix aus unangenehm bearbeiteten Autotune-Vocals und blinder, handzahmer Ausbrüche wiederfindet. Nebenbei sorgt Kroeger gleich beim Opener wieder dafür, dass man ihn auch diesmal wieder einfach nicht ernstnehmen kann:
"The ceiling has us mesmerized
It feels like we could never die
Heading for the dark side of the moon
As we lift up into the sky
Invincible and so alive
Ten feet tall and fucking bulletproof"
Reicht eigentlich schon, um eine resignative Zielgruppe vor Augen zu haben, die ihre Wochenenden am liebsten in Harley-Clubs verbringt und Freude daran hat, mit der Hand in der Hose vor dem Fernseher sitzend laut zu rülpsen. Ein bisschen mehr Ambition dürften die Kanadier selbst schon haben, die sich auf No Fixed Address wohl endgültig mit bombastischem Stadion-Gerumms zufrieden geben. Lead-Single Edge Of A Revolution beginnt zwar neuerlich nicht gänzlich zum Vergessen, verliert sich dann aber ebenfalls in der eigenen Peinlichkeit, getragen von "We Want Revolution!"-Chants. Ein wenig Power durfte man sich bei seinem Titel auch The Hammerer's Coming Down erwarten, aber nein, keine Sorge, das ist auch nur der üblich brave Schwiegersohn-Metal aus dem Norden.
Freunde der winselnden Schnulzen der Band kommen aber ebenfalls auf ihre Kosten. Einerseits zum Abkühlen der Gefühle nach den aufreibenden, kämpferischen Parolen zum Auftakt mit What Are You Waiting For?, andererseits mit dem melodiösen Satellite, dieser einen Midtempo-Ballade, die Nickelback unter unterschiedlichen Namen auf jedes ihrer Alben geschummelt haben. Eingängig, charmant, aber unendlich kitschig und genauso schlimm wie das unmotivierte Elektronik-Geblubber vom schmierigen Miss You. Getoppt wird das alles nur von ein paar wenigen Lächerlichkeiten wie etwa She Keeps Me Up. Eigentlich braucht man sich dazu nur das Musikvideo ohne Ton anzusehen, um zu wissen, was abgeht. Die Band mit dicken Sonnenbrillen, schimmernder Lasershow und riesiger Discokugel vor dem Dancefloor in einem Club. Dance-Pop der übelsten Sorte, nämlich mit einer vermeintlich coolen Altmänner-Attitüde ("Coca-Cola rollercoaster"), für die sich selbst Charlie Sheen in seiner vermeintlich coolen Altmänner-Serie zu schade gewesen wäre. Der hätte zumindest Flo Rida einen Tritt in den Allerwertesten verpasst, wäre der mit so ein paar erbärmlichen Lines ("My missus still eats McDonald's, tastes delicious") am Set angetanzt.
Was soll ich sagen, ich habe es ja wieder versucht. Habe mich durch den bellenden Beginn, die kitschigen Liebessongs und das anbiedernd softe Gitarren-Gewichse durchgekämpft, dabei sogar EDM-Einflüsse und Partyboat-Ballermann über mich ergehen lassen. Es war ein langer, steiniger Weg und obwohl ich eigentlich nichts annähernd Gutes gehört habe, kann ich zumindest sagen, dass mich das unglaublich belanglose No Fixed Address mit all seinen schwachsinnigen Ideen insgesamt weniger nervt, als das an seinen klischeehaften Rock-Allüren erstickende Dark Horse. Vielleicht liegt es aber auch nur daran, dass ich mich diesem Nickelback-Album zwar mit der nötigen Offenheit, aber mittlerweile ohne jegliche Erwartungen gewidmet habe und dementsprechend wenig "enttäuscht" werden konnte. Als Anspieltipps muss ich letztlich aber jene Tracks herauspicken, an die ich mich am wenigsten erinnern kann. Ich denke, damit ist alles gesagt.