von Mathias Haden, 12.11.2015
Wütendes Geschrammel beim gemeinsamen Stelldichein der Grunge-Desperados.
Jede Ära hat ihre Helden. Jede Ära braucht ihre Helden. Was wären die Sechziger ohne Dylan und die Beatles, was wäre Punk ohne Ramones und Sex Pistols - und was zur Hölle wäre Grunge ohne Nirvana? Vermutlich nicht viel, könnte man munkeln - auf jeden Fall irgendwie anders, traut man sich mit Bestimmtheit zu behaupten. Zumindest der letzte Vergleich bietet immerhin Diskussionsnährboden. Natürlich haben Nirvana, Nevermind und vor allem Kurt Cobain dafür gesorgt, dass Genre und Band auf ewig miteinander vernetzt bleiben, doch halfen auch andere eifrig mit, dem Grunge auf seine wütenden Beine zu helfen. Neil Young etwa wurde mit seinen Arbeiten der späten Achtziger und seinem Einfluss auf Acts wie Sonic Youth und eben Nirvana zum 'Godfather of Grunge', während Pearl Jam mit einigen prägenden Veröffentlichungen ihren Teil beitrugen. Und obwohl sich durch diese temporäre Gleichgesinntheit natürlich Wege eröffneten, staunten die Jungs um Eddie Vedder nicht schlecht, als Altmeister Young plötzlich im Studio vorbeischneite, um unter seine Rigide eine gemeinsame LP aufzunehmen. Das Angebot wollte ihm im Lager der Seattler freilich keiner abschlagen und so entstand in kurzer Zeit Anfang 1995, als Nirvana und Grunge fast schon Schnee von gestern waren, Mirror Ball.
Wie kurz die versammelten Herrschaften für den Longplayer gebraucht haben, hört man schon auf den ersten Metern heraus. Hier wurde wenig beschönigt und geglättet, stattdessen dröhnt einem die ungeschliffene Wucht aus jedem Lautsprecher frontal entgegen. Mit lautem Rumms dröhnt Jeff Aments E-Bass an der Gitarrenarmada Young, Stone Gossard und Mike McCready vorbei, während der deutlich höchste in der Hierarchie seine Stimme über all den Krach erhebt und Kollege Vedder nur ab und zu ein bisschen mitträllern darf. Trotzdem fällt der Anfang noch etwas verhalten aus: Song X schunkelt zwar wie ein motivierendes Seemannslied, ist mit Ausnahme seiner netten Akkorde viel zu wenig zwingend und behält bis zum Schluss seinen Intro-haften Wesenszug, dagegen weiß die beißende Hymne Act Of Love mit ihrem kraftvollen Bass zumindest ihre Lautstärke richtig in Szene zu setzen; ganz nach dem Motto: je lauter, desto besser!
Erst danach scheinen sich die unterschiedlichen Charaktere mit ihren Werkzeugen etwas anzunähern und spielen sich in einen bemerkenswerten Rausch. Besagter Rausch trägt den Namen I'm The Ocean, spart neben Youngs Altersbekenntnis nicht an Öko-freundlichen Messages und stimuliert seinen mitreißenden Drive besonders mit voller Lautstärke zu einem wahren Gitarrenorkan - der mit Abstand beste Track auf Mirror Ball und einer der besten seiner zweiten Karrierehälfte, vom besten von Pearl Jam ganz zu schweigen:
"People my age, they don't do the things I do
They go somewhere while I run away with you
I got my friends and I got my children too
I got her love, she's got my love too"
Am Ball bleiben lohnt sich danach aber nicht nur des Albumtitels wegen, Rock-Freunde kommen hier weiterhin klar auf ihre Kosten. Ob man sich nun an der liebevollen Hommage des Alt-Hippies an Led Zep und Jimi Hendrix, Downtown, mit seinem lässigen Groove erwärmen kann oder sich vom längsten Stück, dem Jam-artigen Scenery, mitreißen lassen will - wer stampfende Drums und schrammelnde Gitarrenexzesse goutiert, der wird mit der LP bestens klarkommen.
Die wirklichen Perlen, die sich neben dem gepriesenen I'm The Ocean unter Schweiß und Schmutz der gemeinsamen Arbeit begraben finden, sucht man aber anderswo: Peace And Love gönnt Eddie Vedder endlich ein bisschen Background-Gesangs-Rampenlicht, lässt die Gitarrenfraktion wieder ordentlich rotieren und spannt auch die Rhythmussektion adäquat ein - und wenn dann noch Zeit für eine kleine Verneigung vor John Lennon bleibt, gibt es hier nichts zu beanstanden; auch Big Green Country weiß seine Reize höchst geschickt und fern jeglicher Grazie auszuspielen.
Die sucht man auf Mirror Ball, genau wie geordnete Abläufe, saubere Vocals und einen Hauch Fingerspitzengefühl - ihr ahnt es schon - vergeblich. Wo einst Youngs fein inszenierte, nicht immer perfekt abgemischte Stimme thronte, herrschen nun Chaos, Rohheit und ordentlich Dampf. Genau darin liegt aber auch der Reiz dieser LP, die eher mit seiner Dynamik, als mit seinen Songs zu punkten versucht und auch Füllmaterial wie das lethargische Truth Be Known ohne Probleme verschmerzen kann. Natürlich erschöpft sich die ungezähmte Wucht auf 55 Minuten irgendwann, jedoch hält sie sich überraschend lange frisch und fast schon spannend und zeigt, dass auch eine fragwürdige Kollaboration wie Neil Young/Pearl Jam mit dem richtigen Spirit seine Daseinsberechtigung besitzt. Die will man seinem 22. Album, das in den richtigen Stunden wahre Wunder bewirken kann, aber auch gar nicht absprechen: da spielen nur ein paar Musiker, die zusammen mal richtig Dampf ablassen und nicht Helden spielen wollen. Genau dafür braucht der Grunge sie auch.