von Mathias Haden, 08.12.2018
Now come one, come all to this tragic affair: Doppelsinnige Liebesgrüße aus dem Reich der Toten.
Wer nichts zu sagen hat, schweigt am besten. Ein Credo, dem ich während einem Großteil der vergangenen sechsundzwanzig Jahre praktisch alles untergeordnet habe und das sich ruhig - oh was für ein wunderbar ruhiger Ort die Erde nur wäre - auch ein paar mehr Leute zu Herzen nehmen könnten. Da ich aber in den letzten fast zwölf Monaten reichlich geschwiegen habe und zumindest zu einem Album doch noch so manche Anekdote zum Besten zu geben habe, möchte ich mir die kleine Freiheit herausnehmen, ebendies zu tun: Einen persönlichen Blick in die Vergangenheit werfen und im Zuge dessen eine meiner liebsten LPs überhaupt vorstellen.
Ich möchte die Uhren also gute zwölf Jahre zurückdrehen und in einen Herbst entführen, der sich in vielerlei Hinsicht als eine Art Wendepunkt herausstellen sollte. Um den 14. Geburtstag herum war man in den Klauen der Pubertät aussichtslos gefangen. Pickel sprießten, Hormone schäumten auf und über die eigenen Hormone hatte man selbst als abgestempelter Phlegmatiker weniger Kontrolle, als man je zugeben hätte können. Die Ahnungslosigkeit im Hinblick auf jene Entscheidung, welcher Pfad im Folgejahr beschritten werden sollte, hing genauso in der Luft wie der faulige Geruch einer manisch-depressiven Seele zwischen Highlife und Verwesung. Tatsächlich wurden in einer relativ sachlichen Manier die Vorzüge und Konsequenzen eines vorzeitigen Ablebens durch die eigene Hand abgewogen, was dramatischer klingen mag, als es damals wirklich war. Musik spielte in jenen prägenden Jahren selbstverständlich auch eine gewichtige Rolle und mit der Entdeckung eines Albums hatten die Beatles plötzlich Konkurrenz um die Vorherrschaft auf dem eigenen Plattenteller bzw. damals noch im funktionierenden CD-Player mit fast traumhaftem Sound.
Man könnte jetzt natürlich ganz weit ausholen und über die Bedeutung von The Black Parade für eine Szene sprechen, von der nur noch eine romantische Erinnerung übrig geblieben ist; von den üppig geschminkten, fragilen Melancholikern, die in jenen Tagen My Chemical Romance wie Heilige verehrten. Ich bleibe aber lieber in meiner kleinen Weltanschauung anno Herbst '06. Aufmerksam auf die Band wurde ich nicht bereits über eines der beiden vorangegangen Alben, sondern über Lead-Single Welcome To The Black Parade und dem dazugehörigen Musikvideo, die praktisch wie aus dem Nichts in meinen Kosmos eindringen und mein Leben für immer verändern sollten. Da ging es um einen unheilbar Kranken, da marschierte eine Horde eigenartiger Gestalten in Kostümen und (u.a. Gas-)Masken feierlich und doch leblos eine lange Straße hinunter. Und auf einer fahrenden Bühne stand da diese Band in einheitlichen, schwarzweißen Kostümen, die sich die Seele aus dem Leib zu spielen schien, mit einem Frontmann, der in seiner hingebungsvollen, theatralischen Performance dem Tod näher zu stehen schien als der kranke Patient.
Was soll ich sagen? Es war Liebe auf den ersten Blick. Dieses Quintett, das hier so offensichtlich auf den Spuren von Queen unterwegs war und mit der einen Komposition prompt alle Hymnen und Rhapsodien in den Schatten stellte, die Freddie Mercury und Gefolgschaft in 25 Jahren Bandgeschichte ersinnen konnten. Alles beginnt mit einem sanften Klavierintro. Es folgt ein emotionaler Rückblick von Sänger Gerard Way, Marschkapellensound und schließlich fällt der Vorhang und die Band spielt fast manischen Rock 'n' Roll. Die Gitarren von Frank Iero und Ray Toro jagen durch den Kanal und Ways Triumphzug kulminiert im mächtigen Pre-Chorus. "We'll carry on, we'll carry on" heißt es da hoffnungsvoll und obwohl man nicht so ganz weiß, woher die optimistische Durchhalteparole kommt, nimmt man sie Ways beherzter Darbietung nur allzu unbefangen ab. Den Patienten bringt das zwar nicht wieder zurück ins Leben, fünf der großartigsten Minuten dieses Jahrtausends stehen nach dem Spektakel, wenn die Parade davongezogen ist, aber schon einmal auf der Habenseite.
Dass die am dritten Longplayer der US-Amerikaner nicht zu kurz kommt, hat - sofern man den exzentrischen, aber harmlosen Hidden Track Blood mit einem Augenzwinkern abtun kann - eigentlich zwölf weitere Gründe. Denn da, wo sich gleich am einleitenden The End. ein Piepsen und die dazustoßende Gitarre in die Arme fallen, der Sterbende einen Abgesang auf sich selbst anstimmt, ja dort fängt jene Magie an, die sich sonst nur an den Schreibtischen der Studios Ghibli und Disney heraufbeschwören ließ. Ein Faible für Konzeptalben (kann ich nur teilweise von mir behaupten) und Rockopern im Speziellen (hmpf..) erleichtert den Zugang, ist aber keine Voraussetzung, um Gefallen an den absorbierenden Stücken zu finden. Auf der einen Seite gibt es auf The Black Parade Toros kraftvolle, röhrende Rock-Riffs, die wie auf Dead! oder This Is How I Disappear einen effektiven Beitrag zu einer überlebensgroßen Dynamik leisten, inmitten dessen selbstzerstörerischem Sog aus Pathos und dramatischer Theatralik nur Frontmann Way mit seiner passioniert vorgetragenen Inszenierung vollständig die Kontrolle behält. Die andere Seite der Medaille schmücken im Gegensatz zum Vorgänger Three Cheers For Sweet Revenge auch ein paar Balladen, die nicht nur der Dramaturgie der losen Erzählung dienlich sind, sondern auch für sich genommen funktionieren. Cancer nimmt zwar einen stampfenden Beat mit auf die Reise, darf sich aber als einer der emotionalen Höhepunkte feiern lassen. Die übrigen balladesken Stücke, Single I Don't Love You und Disenchanted, halten es in den ruhigen Gefilden ebenfalls nicht ganz aus, liefern aber vor allem bei Letzterem einige der schönsten und eindringlichsten Minuten: "Now will it matter long after I'm gone? / Because you never learn a goddamn thing".
Wie man es nun dreht und wendet, abgesehen von der etwas zu perfekt ausgefeilten Produktion wird man hier wenig finden, das den Spaß ernsthaft beeinträchtigen könnte. Und ob man nun Gefallen am zynisch bissigen Bestseller Teenagers samt ausgestrecktem Zeigefinger findet, zum verstörenden Polka-Rhythmus von Mama das Tanzbein schwingt oder seinen Emotionen beim entfesselten Famous Last Words ein Ventil bieten mag, in seiner kollektiven Bereitschaft, Grenzen zu überschreiten und - pathetisch gesagt - Herzen zu berühren, sind die dreizehn Tracks der The Black Parade in jeder Verfassung ein lohnender Streifzug durchs Jenseits und die verschrobene Gedankenwelt einer Band auf dem kreativen Zenit.
Es gab eine Zeit in jenem Herbst 2006, da bat ich meine Mutter, die damals etwa zur selben Zeit aufstehen musste wie ich, mich jeden Tag damit aufzuwecken, den vorbereiteten CD-Player einzuschalten und mich direkt mit Zeilen wie "If you look in the mirror and don't like what you see / You can find out firsthand what it's like to be me" in den neuen Tag zu schicken. In der jugendlichen Welt des Schreibers bedeuteten diese Songs über Liebe, Hass, das Leben und den Tod eine Art Rückzugsort, an dem man sich Tag und Nacht Trost und Verständnis erwarten konnte. Es war, als würde diese gesunde Distanz, die zwischen mir und jedem künstlerischen Werk steht, dieses eine Mal überbrückt werden. Selbst wenn man sich vom zweifelhaften Faktor Nostalgie und romantischer Verklärung löst, bleibt The Black Parade für mich in seiner fast cineastischen Pracht ein Meisterwerk vor dem Herren, zu dem ich jederzeit wieder zurückkehren kann - die Parade wird fortwährend weitermarschieren:
"And though you're dead and gone, believe
me
Your memory will carry on
We'll carry on."