von Mathias Haden, 11.04.2017
Motown presents: Die Geschichte einer rattigen Freundschaft + weitere souveräne Schmankerl aus der einstigen Hit-Fabrik.
Seit Abertausenden von Jahren sind Mensch und Tier nicht mehr nur Nachbarn, die nebeneinander vegetieren und sich
gelegentlich im Kampf ums Überleben in die Quere kommen. Zuerst wurde der Wolf auserkoren und zum Hund, dem besten Freund des Menschen gemacht. Jahrtausendelange Domestizierungsbemühungen
folgten, in alle Richtungen nämlich, vom Schwein über das Kamel bis hin zum Goldfisch. Mittlerweile machen Löwen und Grizzlybären Saltos vom 10-Meterbrett, wenn der schrille Pfiff ertönt - Mensch
und Tierwelt könnten sich praktisch nicht näher stehen. Und hier beginnt unsere heutige Geschichte. Dort, wo die besten Erzählungen ihren Ursprung haben: in der berührenden Freundschaft zwischen
einem Jungen und einer Ratte.
In Anbetracht der schwierigen Umstände, die Michael Jackson während seiner Kindheit zu bewältigen hatte, liegt der Verdacht eigentlich gar nicht so fern, dass die besungene Ratte Ben und das
ebenso benannte zweite Soloalbum autobiographischer Natur sein könnten. Ganz so traurig ist die Geschichte um die LP dann aber doch nicht, steckt hinter der Idee lediglich die Bemühung, dem
Box-Office-Hit und Rat-Horror-Film "Willard" eine Fortsetzung zu liefern - und im besten Fall auch in den Musikcharts daraus Profit zu schlagen.
Dem aufstrebenden Jackson die Nummer zu hinterlassen, war letztlich nicht die schlechteste Entscheidung. Eine, die mit Platz 1 in den US-Charts und einem Golden Globe belohnt wurde. Wem würde man die Ode an den besten Rattenfreund aber auch eher abnehmen, als einem unschuldigen Infant mit goldiger Stimme: "Ben, the two of us need look no more / We both found what we were looking for / With a friend to call my own / I'll never be alone". Auch wenn man heute den Eindruck vermittelt bekommt, als hätte die Karriere des Sängers erst mit Off The Wall so richtig begonnen, war Jackson nicht nur als Teil der Jackson 5 hochgradig erfolgreich, sondern auch ohne seine Brüder ein Brett in den Billboardcharts. Ben verkaufte sich immerhin gute fünf Millionen Mal. Warum eigentlich? Am starken, aber immer noch kindlich zarten Gesang kann es doch nicht gelegen haben, eher am erfolgsverwöhnten Label Motown, Anfang der 70er. Die hatten den kleinen Michael fest in der Hand und ließen dem dreizehnjährigen Jungspund freilich keine künstlerische Freiheit. Stattdessen zehn von professionellen Songwritern und anderen Hitschreibern der Motown-Fabrik vorgefertigte Nummern im klassischen Spektrum zwischen Pop, R&B und einer Prise Soul.
Vieles klingt demnach wie aus dem Motown-Handbuch für einfache Hits. Sieht man sich an, was das Label an Alben von Künstlern wie Marvin Gaye oder Stevie Wonder veröffentlicht hatte, ist das nicht zwangsläufig als Kritik zu verstehen. Dem kleinen Jackson aber Nummern wie das sozialbewusste People Make The World Go 'Round trotz hübschem, eindringlichen Soundgewand, das verständnisvolle You Can Cry On My Shoulder oder auch das überkandidelte, vom Solo-Debüt und Vorgänger Got To Be There wiederverwendete In Our Small Way samt Spoken Word-Passagen aufzudrücken, fördert halt mitunter schwierige Ergebnisse zutage. Was weniger am Sänger selbst liegt, der sich in seiner frühen Stimmgewalt zwar ein ums andere Mal überschlägt und in ungute Sphären des gepressten Gesangs vordringt, aber insgesamt einen formidablen Eindruck hinterlässt. Abgesehen vom Titeltrack Ben, der wie das meiste hier zwischen kitschigen Streichern und sanften Backgroundstimmen sehr dick aufträgt, aber dank Jackos Hingabe noch berührend anmutet, lässt er auf einigen anderen Stücken sein immenses Potenzial aufblitzen. Vor allem auf Greatest Show On Earth, dem er mit seiner beseelten Performance, der herrlich tanzbaren Melodie und einem vielschichtigen, aber nicht unrettbar überproduzierten Arrangement im raumfüllend cineastischen Stil zum Erfolg führt. Genau wie den Motown-Classic My Girl, der von lässigen Percussions und einem Funk-infizierten Rhythmus angetrieben wird.
Das große Problem von Ben und der frühen Jackson-LPs bzw. Jungstarplatten im Allgemeinen: Wer braucht das? Alles ganz nett und samtig weich arrangiert, ein vielversprechender, in irgendeinem Stadium seiner Pubertät befindlicher, zwischen Stimmgewalt und Stimmkontrolle herum schlitternder Sänger und eine einigermaßen kurzweilige halbe Stunde ordentlicher, weil risikofreier Motown-Nümmerchen. Letzteren verdankt das zweite Solo-Album auch seinen abgeklärten Charakter, selbst der 13 jährige MJ wirkt nach einem halben Leben im Rampenlicht wie ein alter Fuchs. Insofern ist es fast egal, ob er nun Stevie Wonders Hit Shoo-Be-Doo-Be-Doo-Da-Day oder das altkluge Everybody's Somebody's Fool vertont, stets liegt dieser widerliche Gestank von unsäglich einschneidender Berechenbarkeit im Kopf. Kein Wunder zwar unter den gegebenen Umständen, aber genau so schwer zu ignorieren, wie Jacksons Chuzpe zu überhören. Es sollte sich für die weitere Reise jedenfalls noch bezahlbar machen, dieser kleine Meilenstein, diese klassische Episode vom einsamen Jungen und seinem Freund, der Ratte.