Mari Boine - Bálvvoslatjna

 

Bálvvoslatjna

 

Mari Boine

Veröffentlichungsdatum: 19.10.1998

 

Rating: 6.5 / 10

von Kristoffer Leitgeb, 04.02.2016


Mythische Kräfte und mysteriöse Wärme vereint, leider nicht oft genug für eine volle LP.

 

Aus der Kategorie 'Sätze, die sie im Heimatort dieser Musikerin oft hören': "Heast, koid is!" Vielleicht trifft man genau dieses Wienerische Idiom der Phrase "Brrr, es ist kalt!" dort weniger an, aber die Richtung stimmt. Es geht in den Norden. So weit in den Norden, dass man nur mehr wenige Kilometer von der nördlichsten Stadt Europas entfernt ist, vernachlässigt man mal die Niederlassungen auf Spitzbergen. Hochoffiziell ist, dass dort oben in der Finnmark Temperaturen von -50°C schon mal vorkommen können. Da frieren einem also garantiert die Finger am Instrument fest, wenn man es nur angreift. Mari Boine hat es von dort aus trotzdem irgendwie zu einer der bekanntesten Musikerinnen Norwegens gebracht. Also nicht irgendwie, sondern mit viel, viel Gesellschaftskritik und naturaffiner Spiritualität, Klängen zwischen Tradition und Aufbruch und Peter Gabriel als Helfershelfer. Gebraucht hat's den Ende der 90er schon lange nicht mehr, dafür wusste die Singer-Songwriterin schon zu gut, was sie zu tun hat.

 

Vielleicht fast etwas zu gut, wenn man nochmal drüber nachdenkt. "Balvvoslatjna", Boines fünftes Album, markiert das vorläufige Ende einer Entwicklung hin zu rockigeren, fast schon jazzigen Klängen. Möglicherweise ist es auch deswegen der einzige Release von ihr, der der Mari Boine Band zugeschrieben wird, ist doch die Riege der Studio-Unterstützung kurz und doch länger denn je. Was diese Form der Konventionalität zu schaffen im Stande ist, erlebt man aber relativ schnell, eigentlich schon mit dem Opener. Eallin bietet eine mageres Arrangement, das tatsächlich zur weitläufigen Klanglandschaft mutiert, karg und doch einhüllend. Ins Nichts nachhallende, dezente Riffs sorgen für unwirtliche und fast unheimliche Atmosphäre, gleichzeitig bringt Boines weiche, mythische Stimme als Gegenpol eine zerbrechliche Wärme mit ins Spiel. Im von archaisch anmutenden Percussion-Elementen und simplem Bass dominierten Track wird die Interpretation zum Kunststück, nicht nur wegen fehlender Übung in samischer Sprache. In den filigranen Klängen scheint je nach Fokus der eigenen Ohren alles auffindbar, macht man sich an die Ergründung emotionaler Spuren, vom verletzten, alleingelassenen Wimmern in endloser Leere bis zur verzaubernden Mystik grazilen Gesangs.

 

Diese, dem Minimalismus geschuldete, Undefinierbarkeit verliert sich in der Folge etwas, ohne dabei zwingend qualitative Einbußen zu verursachen. Dem Cover von Buffy Saint-Maries Eagle Man / Changing Woman wohnen mehr Melodie und Eingängigkeit inne, auch wenn das Tempo weiterhin einem dahinschwimmenden Eisberg ähnelt. Doch die langsam pulsierende Percussion widerspricht jeder Trägheit, düstere Monologe inmitten des Tracks kontrastieren noch dazu die hohe Stimme Boines, die sich im Englischen nicht weniger charakterstark gibt. Ähnlich markant bleibt auch der Mann, der Boine den Rock brachte, Gitarrist Roger Ludvigsen, dessen spröde Akkorde trotz immerwährender Gleichförmigkeit für Stimmungsschwankungen in der Musik sorgen.
Dass es auch ganz anders geht, das lernt man erst spät mit dem unerwartet dynamischen Don It Galan. Dort wird neben aufflackernder Keyboard- und verzerrter Violin-Klänge vor allem die treibende Rhythm Section zum dominanten Part. Einen starken Eindruck hinterlässt der Track vor allem auch deswegen, weil an allen Fronten eine rastlose Aggressivität in der akustischen Zurückhaltung durchklingt, die höchstens in Boines großartig gesungenen Refrains klar im Vordergrund steht. Komplimentiert wird dieses Schauspiel vom Closer Etno Jenny, der zu Beginn mit seinen Tribal Drums und dem markanten, flehenden Lautgesang wohl am ehesten dem Joik, dem traditionellen Gesang der Sami, nahekommt. Nach altem Bolero-Prinzip schwillt der Song allerdings musikalisch zunehmend an, wird von Flöten- und Didgeridoo-Einsätzen, sphärischem Keyboard, Gitarre und immer aktiver werdendem Getrommel geprägt.

 

Die gravierenden Fehler passieren an anderer Stelle, vornehmlich dann, wenn Boine die Ruhe nicht in passende Atmosphäre ummünzen kann. Dann ist schon einmal ziemliche Fadesse angesagt, obwohl noch immer kurzzeitig ansprechend. Doch die verzerrten Keyboard-Töne und das prägende Echo, die Risten zu etwas Besonderem machen sollten, tun eigentlich nichts gegen die offensichtliche Lethargie und Langatmigkeit, die dem Fünfminüter anhängen. Da hilft auch das Abdriften in die Welt des Spoken Word so gar nicht, eliminiert Boine doch eine ihrer größten Stärken, ihre Stimme, fast komplett. Auch die kann allerdings verpuffen, wie einem der beinahe A Cappella-Song Alit Go Buot Varit beibringt. Der ist zwar mit der fast nicht vorhandenen Trommel und einem Hauch von Nichts, wo sonst andere Instrumente wären, wunderbar traditionell, aber in seiner Kürze nur als mäßiges Gesangskunststückerl geeignet.

Letztlich hängt auch einiges an den Künsten des Gitarristen, macht doch der mit den hohen Zupfern Beaiwi Nieida mit zu dem, was es ist, während Oarjjabeat Beaiwi Ja Manu ohne selbige - andersartiges Gezupfe hin oder her - der Langeweile verfällt. Zumeist ist es Ludvigsen, dessen Performance dafür sorgt, dass die Musik dem Gesang wirklich etwas entgegenzustellen hat. Seine Akkorde machen so die emotionale Ambivalenz der Songs aus, die sonst leicht in unspektakulärer Harmonie versinkt.

 

Wir wollen aber nicht vergessen, dass jemand ganz anderer im Mittelpunkt steht, nämlich Mari Boine. Und die Norwegerin macht ihre Sache auf Albumlänge sicherlich nicht schlecht. Für musikalisch einzigartige Momente, in denen Atmosphäre und Spiritualität im Mittelpunkt stehen, ist jedenfalls gesorgt, auch wenn man für fast jeden von ihnen auch einen Schwachpunkt in Kauf nehmen muss. Manchmal wirkt die Angelegenheit beinahe so, als wäre zum unkonventionellen Gemisch aus Rock, Folk und einem Haufen ethnischer Einflüsse zu viel Routine dazugekommen, um noch taufrisch zu wirken. Passiert aber nicht oft genug, um "Balvvoslatjna" seine eindrucksvolle Natur komplett zu nehmen. Der großen Kämpferin für die Rechte der Sami sei Dank, kann man dem Ausflug ins kalte Norwegen also durchaus einiges abgewinnen. Aber keine Sorge, beim nächsten Mal wird's deutlich wärmer, es geht nämlich nach... ha, schon geglaubt, wird nicht verraten.

 


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