von Kristoffer Leitgeb, 13.06.2014
Liebevoll gestaltetes World Music-Durcheinander vom französischen Weltenbummler. Eine Wundertüte, in der sich viel Gutes verbirgt.
Der Junge ist gut, aus dem wird noch was. Darf man so etwas über jemanden sagen, der seit bald 30 Jahren erfolgreich im Musikbusiness steht? Wohl eher nicht. Vor allem meiner einer darf so etwas nicht. Immerhin hat der Mann ungleich mehr von der Welt gesehen, hat mehr als nur eine Band gegründet und seine Albumverkäufe dürften langsam in Richtung der 10 Millionen-Marke gehen - womit er ungefähr 10 Millionen mehr verkauft hat als ich, aber meine Zeit kommt noch -, da scheint Blödsinn solcher oder ähnlicher Art unangebracht. Also zurück zum Start. "Nächster Halt: Hoffnung" heißt die LP auf Deutsch und während die Story hinter dem Titel nicht so romantisch ist, wie vielleicht angenommen, leidet darunter der Inhalt nicht im Geringsten. Die Einflüsse bleiben die gleichen wie früher, aber aus dem melancholischen Vagabunden vom Debüt ist ein überdrehter Alleskönner geworden.
Ein Alleskönner war er eigentlich auch im 20. Jahrhundert schon, das belegt seine Arbeit mit Mano Negra, aber so quirlig und farbenfroh kennt man ihn zumindest als Solist noch nicht. Klar, so mancher Text reiht sich nahtlos ein in die lange Liste sozialkritischer Statements des Franzosen mit den offensichtlichen spanischen Wurzeln. Aber statt des Versuchs Südamerikas Straßenmusiker einzufangen, gibt's diesmal ein aufpoliertes, poppigeres, aber eben auch bis ins kleinste Detail durchdachtes Spektakel. Mit Merry Blues und Bixo startet er da sinngemäß. Starker Bläsersatz, lockere Latin-Akkorde und seine wohlbekannten Soundspielereien mit allerlei Wortfetzen im Background. So kennt man ihn und doch fällt auf, dass das Tempo höher ist, dass da mehr Leben drinsteckt und die Musik vermehrt im Vordergrund steht. Umso besser, ist das mit dem Textverständnis doch so eine Sache. Arabisch und Galizisch gesellen sich diesmal zum großen Sprachrepertoire von Chao und, ganz ehrlich, keinen Dunst, wovon er da die meiste Zeit singt.
Aber, auch ganz ehrlich, es kümmert wenig. Mit seinen tollen Arrangements, den schrägen Tönen, die sich im Hintergrund übereinanderstapeln, und den multiplen Gesangsspuren wird hier eine Klangwelt kreiert, die schon fast keines Inhalts mehr bedarf. Promiscuity überzeugt da mit schräg verzerrter Background-Stimme und einem der tanzbarsten Beats seit es überhaupt Beats gibt, Me Gustas Tú ist mit dem lockeren Akustik-Gezupfe eine relaxte Reminiszenz an das Debüt "Clandestino" und mit dem kurzen Duo Trapped By Love und Le Rendez Vous schafft er einen netten Sprung ins Swing-Terrain, wenn auch in reichlich aufgeputzter und schneller Form. Gleichzeitig begegnen einem mit Mr. Bobby eine Hommage an Bob Marley und der altbekannte elektronische Beat von Hitsingle Bongo Bong und mit dem großartig chaotischen La Marea gibt er einen Vorgeschmack darauf, wie energetisch seine Live-Performances sind.
Besonderer Pluspunkt für die Platte ist die nahezu perfekte Balance aus dezenter Gelassenheit und unbekümmerter Feierlaune. Fast immer springt ein ruhiger Moment zur richtigen Zeit in die Up-Tempo-Meute und verschafft "Próxima Estación" eine gesunde Zahl an Verschnaufpausen. Trotzdem sprechen wir meist nicht von musikalischer Perfektion. Oft überzeugt Chao, manchmal kommt man aber nicht daran vorbei, sich über das Gebotene etwas zu wundern. El Dorado 1997 ist eine reichlich störrische und sogar fast fade Nummer, beinahe zur Gänze auf einen erdrückenden Bläsersatz aufgebaut, Mi Vida, lyrisch eine Perle und lange Zeit der einzige Melancholiker hier, wäre perfekt auf dem Vorgänger, wirkt diesmal aber zu drückend und langsam, um voll aufzugehen. Das kurze Papito beraubt sich seines Favoritenstatus dagegen durch den etwas nervigen Gesang und die unflüssige, nicht ganz ausgegoren wirkende Soundkombi. Wirklich bergab geht's aber kurz vor Ende, wenn mit dem wenig sympathischen Gesangsrhythmus von Homens - zusammen mit französischem Text wirklich nicht förderlich - ein einziger schwer verdaulicher Song auf einen wartet. Abseits davon überzeugt Chao nicht immer, doch selbst die schwächsten Momente entbehren nicht einer gewissen Anziehungskraft.
Und, so nett ist er, den wirklichen strahlenden Ausreißer hält er auch noch bereit. Denia heißt er, ist die Premiere für einen arabisch singenden Manu Chao und geht als einer der animierendsten sozialkritischen Tracks in die Geschichte ein (gemeinsam mit Gorillaz-Song Dirty Harry). Während Algeriens Schattenseite besungen wird, steigert sich der Song über fast die gesamte Laufzeit vom dezenten Beginn nur mit Maracas, über geniale Congas und einen lockeren Riff hin zu einem großartigen Finale mitsamt genialem Bläserpart und den dank ihrer Einfachheit wohl eingängigsten Minuten dieser LP. Nichts reicht da heran, egal, ob es die mal freudigere, mal depressive Liebesbekundung in Me Gustas Tú und Mi Vida ist, der leicht verzweifelte Hilferuf in Mr. Bobby oder sein genial schwachsinniger Humor in Promiscuity. Spätestens wenn er dort mit "Too much too much Williwilli / Can drive to big family / Too much too much morality / Can drive to the flies and bees" endet, gönnt man ihm einen Lacher.
Während es ihm also nicht zwingend am Humor fehlt, würde man ihm als Fußballer wohl fehlenden Killerinstinkt vorwerfen. Die Songs sind kurz und knackig, sie haben Inhalt und sie verbinden lebhaften Sound mit relaxter Grundhaltung. So oder so, zu oft müsste man ein Auge zudrücken, um ihn wirklich kritiklos loben zu können. Bei aller akustischen Güte, die einem entgegenkommt, bleibt der Beigeschmack, dass hier fast überall etwas nicht ganz richtig, etwas Fehl am Platz, vielleicht gar etwas schwachsinnig wirkt. Denn mit den eingebauten Stimmfetzen, den Bläsern, der reichhaltigen Percussion und Chaos Charakterorgan ist so viel Gutes da, dass zumindest eines davon oft entbehrlich wäre. Das zerstört nichts, raubt dem Album aber zumindest einen Teil seines wirklich großen Gesamtpotenzials.
Dieser Teil ist jedoch nicht groß genug, um nicht eine nette kleine Empfehlung an alle abzugeben. "Próxima Estación: Esperanza" ist weniger geschlossen als Chaos Debüt und auch in puncto Stimmung zieht es den Kürzeren. Dafür bekommt man eine größere Soundpalette, reichhaltigere Songs, die in mehr Richtungen wandern und dem ohnehin schon großen Repertoire des Franzosen noch die ein oder andere wichtige Facette hinzufügen. Umso wichtiger dürfte wohl sein, dass hier ein starker Mix aus Latin, Reggae, Salsa und noch einem halben Dutzend weiterer Genres im Rockgewand verpackt wird. Eine Wundertüte, in der sich viel Gutes verbirgt.