Mano Negra - Casa Babylon

 

Casa Babylon

 

Mano Negra

Veröffentlichungsdatum: 06.05.1994

 

Rating: 7.5 / 10

von Kristoffer Leitgeb, 26.12.2016


Im Zusammenbruch wird das Ensemble zum Chamäleon und präsentiert einem Farbwechsel en masse.

 

Manche behaupten, jedes Ende würde auch unweigerlich einen neuen Anfang bedeuten. Sofern wir von Kreisen reden, stimme ich dem vorbehaltlos zu. Abseits des geometrischen Sonderfalls hält der Motivationsspruch allerdings nicht immer dem Härtetest stand. Zumindest sollte man ihm nicht allzu euphorisch begegnen, denn die qualitative Beschaffenheit des jeweiligen Neuanfangs ist ja nicht in Stein gemeißelt. Auch wirklich miese Dinge beginnen irgendwann. Trotzdem gelingt manchmal das Unmögliche und etwas ersteht aus der Asche wieder auf wie ein Phoenix. Manu Chao kann zumindest so etwas ähnliches für sich reklamieren, immerhin hat er aus den Trümmern der Punk-Rocker von Mano Negra einfach deren vielseitigstes Album herausgezogen und damit seinen späteren Ruhm begründet. Und tatsächlich, "Casa Babylon" ist in Anbetracht der Umstände fast einschüchternd kreativ.

 

Was dazu führt, dass ich mir nicht sicher bin, wo mit dem Beschreiben anzufangen wäre. Denn die vierte und letzte LP des Ensembles, im Nachhinein zum Konzeptalbum geadelt, entfaltet im Laufe der 16 Tracks so viele quirlige, überdrehte und doch präzise ausgeformte Strömungen, dass es ein Weg voller Abzweigungen ist, den man mit dem Opener Viva Zapata beginnt. Sicher ist nur, dass trotz des aggressiven Einstiegs wenig von der schwelenden, rock-dominierten Geradlinigkeit des Vorgängers "King Of Bongo" übrig ist. Stattdessen begegnen einem die in späteren Jahren zu Chaos Markenzeichen werdenden Radio- und TV-Aussschnitte, es entstehen hyperaktive, liebevoll gestaltete Soundcollagen, die sich aus Punk und Rockabilly auf der einen Seite, einer weiten Bandbreite lateinamerikanischer und jamaikanischer Einflüsse auf der anderen zusammensetzen. Der Opener gelingt programmgemäß, lässt sich neben der starken Percussion und sporadischer, trockener Hard Rock-Riffs auf ein klammes elektronisches Gewirr ein, dem dank der kurzen Gesangsschnipsel wenig Inhalt, aber unglaubliche Kraft und Vitalität innewohnt.

 

Doch es wird noch mehr gesungen. Chao führt mehr denn je, schart aber um sich nicht nur die mit Energieüberschuss gesegneten Mitstreiter von Mano Negra, sondern dazu einen Haufen Gastsänger, die sich im vorbeirasenden Casa Babylon zu sich überschlagenden Zeilen hinreißen lassen oder im lockeren Rockabilly-Drive von Hamburger Fields geschmeidige Background-Gesänge beisteuern. Ob es Chao dabei wirklich um erinnerungswürdige Botschaften geht, sei dahingestellt. Zumindest lassen sich im Soundgewirr nur selten große Aussagen erkennen, dafür bemüht der Franzose wirklich jede Idee, die er sich selbst irgendwie entlocken kann. Während er den Fußballtrack Santa Maradona zu einem stampfenden Party-Rocker werden lässt, wird das geniale Señor Matanza zur wohlgeformtesten Symbiose der Einflüsse aus Reggae, Ska und Latin. Mit schrägen Sprecheinlagen und smoothem Bass konterkariert er den rhythmisch genialen Salsa-Refrain, der letztlich sogar die unwiderstehlichen Retro-Keys in den Strophen überstrahlt.
Irgendwann zwischendurch stolpert man über lupenreinen Rap-Rock, genießt die starke, anschwellende Percussion, die die leichten Gitarrenriffs von Super Chango umrahmt, oder schnauft mit dem Rockabilly-Leichtgewicht Love And Hate ein bisschen durch. Ohne mit der Perfektion irgendwann wirklich auf Tuchfühlung gehen zu können, bietet die Band kurz vor ihrer Auflösung noch einmal eine großartige, abwechslungsreiche Show, die sich in allen Ecken, die Mano Negra bisher ausgekundschaftet haben, austobt.

 

Gerade dieses stilistische Herumfuhrwerken ist es dann aber auch, das kleinere Verwerfungen und Ausrutscher fast zur Pflicht macht. Schon Santa Maradona wirkt bei aller Toleranz gegenüber Mitgröhlhymnen ein wenig stumpf, gefällt nur phasenweise durch seine harten Riffs und Chaos energiegeladenen Auftritt. So ganz gehen die hyperaktiven Minuten ohnehin nicht auf, so mitreißend und faszinierend sie im ersten Moment auch sind. Bala Perdida gerät als Mischung aus Ska und Haudrauf-Punk ein bisschen außer Kontrolle, findet die notwendige Linie nicht wirklich und mündet noch dazu in dem sehr scharfen Kontrast einer kurzen Latin-Session. Dass darauf das geschmeidige und doch atmosphärisch gewichtige Reggae-Stück Machine Gun folgt, trägt nur noch zur Zerrissenheit bei. Auf die Spitze getrieben wird das ewige Hin und Her dann mit dem finalen This Is My World, das als polkainfiziertes, zähes Irgendwas vor sich hintreibt, ohne die geringste Verbindung zum vorherigen Material erahnen zu lassen.

 

Doch der Eklektizismus gehört ohne jeden Zweifel zu Mano Negra. Und er bringt einen in die beneidenswerte Lage, ohne Vorwarnung vom überdrehten, bläserverstärkten Ska-Track El Alakran zum reinen Percussionstückl, dem traditionellen Mama Perdida, zu gelangen und dabei nicht die geringsten Umstellungsschwierigkeiten zu verspüren. Noch in ihren letzten Zügen beweist die Band rund um Manu und Antoine Chao, dass zwischen den Mitgliedern trotz aller Spannungen eine beneidenswerte Harmonie herrscht, wann immer es um die Musik geht. Ein letztes Mal kommt genau dieses Ensemble in La Vida (La Vida Me Da Palo) voll zum Tragen. Die starken Ska-Rhythmen, die hellen Akkorde am Keyboard und die mühelos eingeflochtenen Trompeten zeigen die neun Mannen von ihrer besten Seite, bescheren der LP ein spätes Hoch, in dem zwar von den punkigen Ursprüngen absolut nichts mehr zu spüren ist, das aber nicht weniger Energie und Frische vermittelt.

 

Und auch "Casa Babylon" als Ganzes bringt wieder viel dessen zurück, was man drei Jahre zuvor vermisst hat. Genau deswegen darf der vierte Auftritt auch als würdiger Abschluss der vielseitigen Franzosen dastehen. Trotz eines kleinen Mangels an Treffsicherheit, bleibt einem nämlich immer noch der bunteste Longplayer der Band und damit eine der kurzweiligsten Darbietungen, die sich in der weiten Welt des Rock finden lassen. Dass man nicht von allem fasziniert ist, ergibt sich. Gerade mit Blick auf die Verbindung der alten Qualitäten von Mano Negra mit dem bald aufgehenden Stern Manu Chaos, der immerhin fast alleinverantwortlich für die kreative Gestaltung des Abschiedsalbums war, treffen hier allerdings zwei Welten aufeinander. Damit kann man auf alle Fälle zufrieden sein.

 


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