von Kristoffer Leitgeb, 26.09.2017
Die beeindruckendste und wohl beste Neuerfindung, die das Jahrzehnt anbieten wird können.
Vielleicht haben das manche schon bemerkt, aber es ist ein ungeschriebenes Gesetz hier, dass Alben nicht direkt nach dem ersten Anhören rezensiert werden, sondern erst einmal eine Art Einsinkpause zu folgen hat, bevor erbarmungslos gerichtet wird. Es gibt Präzedenzfälle für eine andere Vorgehensweise, das aber eigentlich nur bei noch vor dem Release reviewten LPs. Dieser Review ist allerdings tatsächlich eine komplette Ausnahme, geschrieben am Tag des ersten Durchlaufs der Tracklist. Warum? Weil ich mich nicht erinnern könnte, jemals so sehr von einem Album überrascht worden zu sein wie von diesem. Und das ist ein Ersteindruck, der entsprechend die Formulierungen sprudeln lässt und aus schreibökonomischer Sicht nicht einfach ignoriert werden sollte. Deswegen also Kesha mit ihrem Quasi-Comeback, nachdem in Wahrheit für mich einzementiert war, dass diese Frau auf ewig darum kämpfen würde, Katy Perry im Duell der unnötigen Pop-Stars hinter sich zu lassen. Und dann das...
Mitunter fällt es ja schwer, das bereits herausgearbeitete Bild über eine Künstlerin und die Erwartungen an ihre nächste Arbeit einfach so fallen zu lassen. Diese Königsdisziplin fairen Kritikertums wird eklatant erschwert, wenn man direkt vor dem Genuss einer solchen LP die Vorgängerplatte hört, diese als zwar kompetentere, aber immer noch deftige Forsetzung des anstrengenden Elektronikdebüts identifiziert und dann plötzlich sowas wie Bastards hört. Der dezent eingezählte und rein an der Akustikgitarre gespielte Opener ist soweit weg von allem, was mit dem Namen Kesha bisher zu verbinden war, dass eine Schilderung des Erstkontakts vielleicht keine schlechte Idee wäre: "Ähm, was macht die mit akustischer Gitarre? ... Das klingt gut, was soll das bedeuten? ... Sicher nur ein Trick, da kommt irgendein elektronischer Schmarr'n daher und zerreißt das!" Nix da, alles bleibt heil und Kesha obsiegt, wie ich es ihr tatsächlich nicht zugetraut hätte. Die Eröffnung ist ein ruhender Traum, gleichermaßen musikalisch friedlich und ungeahnt offenherzig und direkt in der bestärkenden Botschaft, die so manchen Track bestimmen wird. Hilfe kommt nur von kaum hörbaren Orgelklängen, bis das Finale zu einem kitschigen, aber passenden, gospelnahen Finale heranwächst.
Es wäre allein das schon genug, um aus dem ehemals verzerrt rappenden Party-Clown eine fähige, gefühlvolle Singer-Songwriterin zu machen. Sie belässt es ja auch nicht dabei, legt später mit dem süßlichen Titeltrack nach, der sich zu Beginn fast ausschließlich aufs Klavier stützt, mitsamt Streichern, Background-Unterstützung und sprunghaftem Gesang einen ordentlich Schuss Theatralik mitbringt. Oder mit der beeindruckenden Leadsingle Praying, die gleichermaßen aufs Piano vertraut, sich textlich als erwachsene Art des Abrechnungstracks gebärdet, vor allem aber musikalisch ganz schnell als Soul/Gospel-Hybrid imponiert und einen wahrhaft glorreichen Refrain sein Eigen nennen darf, der Kesha neben songwriterischer Fähigkeiten auch als durchaus beschlagene Sängerin etabliert - allein diese eine schrill-hohe Note da drin, nicht schlecht.
Ähnlich gut gelingt ihr der oft recht romantische Abstecher in Richtung Country, ihrer ursprünglichen musikalischen Heimat. Ein bisschen schwierig ist es im ersten Moment, sie im Duett mit Dolly Parton zu erleben, vor allem bei einer liebestrunkenen Serenade wie Old Flames (Can't Hold A Candle To You). Das ist auch bei weitem nicht der gelungenste Auftritt in diesen musikalischen Sphären. Der wehmütige Closer Spaceship wird nämlich trotz wenig harmonierendem Titel zu einem stark gesungenen und ideal durch Banjo und schwebende Background-Stimmen verstärkten Sehnsuchtstrack, der einmal mehr und dann endgültig belegt, dass ihr die Fähigkeit für unprätentiös emotionale Minuten gegeben ist.
Dass dem so ist, liegt auch daran, dass Keshas Texte erfrischend unpoetisch daherkommen. Man kann es sprachlich schlicht und einfach derb nennen, was sich da die meiste Zeit abspielt. Große Metaphern oder blumige Phrasen erspart sich die US-Amerikanerin und ersetzt sie durch beiläufig eingestreute Ausfälligkeiten, die schon im Opener vor allem eines vermitteln: Natürlichkeit. Was höllisch wichtig ist, will man aus dem finsteren Tal elektronischen Hedonismus' raus in die Weiten ernster, gehaltvoller und gefühlsbetonter Musik. Wobei gerade das nie und nimmer heißen soll oder muss, dass alles niedergeschlagen, melancholisch oder tieftraurig daherkommt. Keshas Comeback, es ist in der Form zweifellos auch Produkt der schweren Jahre davor mitsamt Entzugsklinik, Gerichtsverfahren gegen ihren früheren Produzenten und dem Weg zur künstlerischen Selbstbestimmung. Aber, verdammt, ist die daraus gestärkt rausgekommen! Zusammen mit den Eagles Of Death Metal - tragischerweise ähnlich gebeutelt in der Vergangenheit - reißt sie in Let 'Em Talk unbeschwert und kraftvoll die Wände ein, macht einen auf Iggy Pop und fühlt sich merklich im lockeren Rock genauso wohl wie in der Country-Welt.
Ein bisschen hat man sogar das Gefühl, die schnelleren und angriffigen Momente liegen ihr eher, vielleicht auch nur weil ihre früheren Alben beinahe nur auf der Ebene stattgefunden haben. Die Parallelen zwischen damals und heute enden damit allerdings sofort, denn elektronisch dominiert ist hier nichts, stattdessen blüht die Sängerin inmitten einer genialen musikalischen Farbvielfalt auf. Das kurze Zupfer-Intro von Hunt You Down lässt einen ohne zu zögern an Johnny Cash denken, mündet auch in einen countryesken Footstomper, dem die überraschend geschmeidige Stimme Keshas als gelungener Kontrast dient. Boots setzt dagegen auf galoppierende Drums und ähnlich dynamische Klavierarbeit, die mit minimalem synthetischen Beiwerk für eine perfekte Übertragung elektronischer Aura in ein organisches Gewand sorgen. Und während Boogie Feet, wiederum mit den Eagles Of Death Metal, zur rhythmischen und charakterlichen Rückbesinnung auf ihre alten Tage und damit zum leicht isolierten, schwer verdaulichen Schwerenöter in der Tracklist wird, kann Woman als Triumph der ganz, ganz anderen Art gelten. Die Dap-Kings Horns hat sie sich ins Studio geholt und mit denen wird Kesha plötzlich fast ein halbes Jahrhundert zurückgeworfen, in die Zeit großer feministischer Hymnen, in die Zeit des Soul und Funk. Das Ergebnis ist nahezu grenzgenial, allein schon deswegen, weil ihr mit Leichtigkeit die markigste Form des Female Empowerment gelingt, mit der sie all die großartigen Frauen, die sich derzeit so herumtreiben und angeblich auf die Weiblichkeit schauen und setzen - eine gewisse Angel Olsen soll zuletzt mit "MY WOMAN" ja da ein bissl was gemacht haben -, um Längen hinter sich lässt. Während die nämlich zum Beispiel bei "Shut up and kiss me" hängen bleibt, tönt das bei Kesha schon etwas angriffiger:
"I buy my own things, I pay my own bills
These diamond rings, my automobiles
Everything I got, I bought it
Boys can’t buy my love, buy my love
I do what I want, say what you say
I work real hard every day
[...]
Don't buy me a drink, I make my money
Don't touch my weave, don't call me "honey"
Und wenn das dann zu einem Refrain führt, der effektiv aus einer zur Quintessenz cooler Direktheit verdammten Zeile, nämlich "I'm a motherfucking woman!", besteht, bin zumindest ich überzeugt.
Was nicht für Hymn gelten kann, so gar nicht. Jetzt macht die ein fast von Elektronik befreites Album, entsagt den Trends, geht eigene Wege und dann ist da doch dieser eine Track, der einer schlichten Kopie von Lorde gleichkommt. Dahinstolpernder, träger Dream Pop mit wenigstens minimalistischer Ausgestaltung. Die lebt aber trotzdem nicht und lässt genau den Esprit, die Energie und in dem Fall insbesondere die eindringliche Emotion vermissen, die manch anderer Song transportiert. Dem steht aber immerhin das dezent an die Reinkarnation von Fall Out Boy erinnernde Learn To Let Go gegenüber, das nicht nur kurzfristig in ein frenetisches Rap-Stakkato verfällt, sondern vor allem beweist, dass der hymnische Synth-Pop plus Rock light, den die ehemaligen Pop-Punker die ganze Zeit bieten wollen, tatsächlich sehr gut klingen kann, wenn man ihn richtig anpackt.
"Rainbow" als Ganzes kann dann passend dazu wohl als Beweis dafür gelten, dass Kesha verdammt gut klingen kann. Und das ohne, dass es irgendwer so wirklich erwartet hätte. Da seien alle Leser wirklich herausgefordert, ein Comeback und eine musikalische Neuerfindung aufs Tapet zu bringen, die eine so unglaubliche Steigerung in allen Belangen mit sich gebracht haben. Die Frau, die mit "Animal" am Fassboden des Elektronik-Pop herumgekrebst ist, wenig später dort nachgelegt hat, kommt jetzt mit einer LP daher, die entgegen allem, was dieses Jahrzehnt populär werden hat lassen - vom lahmen Cineasten-Trip-Hop bis zum x-ten 80er-Revival und R&B-Aufguss -, wirklich so offensichtlich das raushaut, was Kesha immer einmal machen wollte. Und das alles treffsicher und trotz Abstrichen bei der Komplexität formvollendet, dass sie mit einem Schlag die ganze erste Reihe des Pop hinter sich lässt und in Wirklichkeit sogar den Schritt zur talentierten Singer-Songwriterin schafft. Das, meine Damen und Herren, ist heftig. Aber es soll noch positive Überraschungen geben auf dem Planeten.