von Kristoffer Leitgeb, 01.02.2016
Die apologetische Rückkehr wird zur Interesse weckenden Erneuerung voller textlicher Missgriffe.
Vorurteile sind böse, heißt es schon im Kindergarten. Früh übt sich, wer ein guter Mensch werden will. Was einem da weniger mitgegeben wird, sind ein paar relativ unumstößliche Gegebenheiten des menschlichen Miteinander, nämlich dass Vorurteile überall sind, bei jedem von uns. Wer glaubt, einem anderen Menschen gegenübertreten zu können, ohne dabei - bewusst oder auch nicht ganz so - bereits dem ersten Eindruck allerhand Informationen zu entnehmen, werfe den ersten Stein. Und schon heißt's: Hallo Vorurteile. Gut, man sollte es nicht übertreiben mit den verfrühten Beurteilungen, aber man kann doch auch ehrlich an die Sache herangehen. Tut man das bei Justin Bieber, wird's ohnehin einfacher, denn der Kanadier hat über die Jahre genug aufgeführt, um Antipathie nicht voreilig wirken zu lassen. Also geht's mit "Purpose" auf große Entschuldigungstour mitsamt einem Haufen Schmalz und klanglicher Läuterung.
Letzteres ist die konkurrenzlose Schokoladenseite der tatsächlich erst vierten Studio-LP des ehemaligen Traums aller 12-jährigen Mädls da draußen. Wobei, es träumen vielleicht immer noch die gleichen von ihm, die sind ja auch älter geworden. Bieber selbst ist mittlerweile alt genug, um ein ziemlich ordentliches Stimmchen entwickelt zu haben, das von pubertärer Quietschigkeit nichts mehr erahnen lässt, stattdessen eifert er gesanglich dem Namensvettern und ehemaligem 'Mr. Babyface' Justin Timberlake nach. An dieser Front gibt es also vom ersten Ton an Pseudo-R&B, selten wirklich außerordentlich gut, doch eingebettet in das oft genug wohlgeformte musikalische Korsett durchaus überzeugend. Angelegt wurde ihm das Korsett von einer Heerschar mal mehr, mal weniger fähiger Produzenten, allen voran aber von Skrillex. Der hat in einem seiner lichtesten Momente dafür gesorgt, dass sein sonst so schwieriger EDM-Sound auf "Purpose" beeindruckend geschmeidig und dezent daherkommt.
Auch deswegen stammt die Crème de la Crème des Albums durchwegs aus dieser Ecke und wurde nach alter kapitalistischer Tradition zum Welthit erkoren. Egal, ob What Do You Mean?, Sorry oder das von Jack Ü - das Duo bestehend aus Skrillex und Diplo - inszenierte Where Are Ü Now, alle treffen sie mit ihrem präzise abgestimmten EDM- und Tropical House-Werkl einigermaßen ins Schwarze. Am meisten kann eher unerwartet die Jack Ü-Vorstellung. So ganz rechnen konnte man damit nicht, weil sich der im Plüschtier-Modus befindliche Justin Bieber in der Theorie nur schwer mit den beiden Elektronik-Exzentrikern vereinen lässt. Doch das Kunststück gelingt und der Song bringt den fast schon emotionalen Auftritt des Sängers bestens mit den treibenden Beats, Stimmmanipulationen und sogar Skrillex' eher auf der nervigen Seite gelagerten "Dolphin"-Sounds in Einklang. Die anderen beiden Tracks gehen es konventioneller an, belegen mit ihrem monotonen Ganzen aber auch die Schwachstellen selbst der stärksten Augenblicke des Albums. Gerade What Do You Mean? - nicht von Skrillex produziert, aber offensichtlich von ihm inspiriert - hätte mit der schon beinahe lächerlich effektiven tickenden Uhr im Hintergrund und seinen im Positiven massakrierten Flöten-Tönen Potenzial für sehr viel, würde er nicht in ständigen Wiederholungen und textlicher Leere versanden.
Texte sind übrigens ein gutes Stichwort, selbige sollen nämlich noch weit mehr in den Mittelpunkt rücken. Die starken Ausreißer haben nämlich den Vorteil, dass sie lyrische Ergüsse höchstens als passende Melodiespender zulassen, sie aber eindeutig der guten musikalischen Arbeit unterordnen. Ansonsten sind die ungefähr so gehaltvoll wie eine Flasche Leitungswasser, aber das schmeckt ja auch. Im Gegensatz dazu schmeckt höllisch übersüßter Fruchtsaft weniger, genau diesen Vergleich regen jedoch die zahlreichen Balladen an. Die zweite Hälfte ist voll davon und sie geht auch daran zu Grunde. Schon die weinerlich-trotzige Eröffnung Mark My Words weckt dahingehend wenige Hoffnungen, sondern zeigt nur gesangliche Stärken auf. Mit dem ausgedehnten, einschläfernden Beat von No Pressure ist dann aber jegliches Leben verschwunden, ein Gastauftritt von Big Sean und fades Akustikgezupfe ändern daran absolut nichts. Die klaren Tiefpunkte kommen mit den katastrophalen Schnulzen Life Is Worth Living und Purpose, die das Bieber'sche "Ich bin jetzt ein ganz anderer"-Schauspiel in wirklich peinliche Sphären abdriften lassen. Aber bei reinen Klavier-Songs nach Coldplay-Vorbild und tatsächlich mehr Pathos, als es die Briten normalerweise hinbringen, da ist wirklich Hopfen und Malz verloren.
Dass auch Texte mit fragwürdigem Inhalt durchaus unproblematisch sein können, beweist der Kanadier nur mit Children ausreichend. Zwar bringt folgendes das Kopfschütteln auch nicht wieder in die Vertikale:
"We're the generation
Who's gonna be the one to fight for it?
We're the inspiration
Do you believe enough to die for it?"
Diese Aufgabe erledigen der eindringlich starke Beat mitsamt gut eingebauten Claps und vor allem die guten Instrumental-Passagen aber auch ohne poetische Mächte. Wenn es einen Track gibt, bei dem Bieber tatsächlich auch auf die geschriebenen Zeilen ein ganz kleines bisschen stolz sein darf, dann sind es die vom musikalisch isolierten Love Yourself. Zwar kommt der Track mit seinen äußerst spärlich eingestreuten Gitarren-Akkorden teilweise behäbig und allzu gleichförmig daher, doch der Abrechnungstrack schafft es, weder zu dick aufzutragen, noch sich zu sehr aufs Feld der totgetretenen Plattitüden zurückzuziehen. Stattdessen hört man die wahrscheinlich ehrlichste Nummer seiner Karriere und einen willkommenen Bruch mit dem elektronischen und exzessiv glattpolierten Rest.
Ob das alles wirklich reicht, um das angeschlagene Image und vor allem die ausbaufähige Meinung über seine Musik nachhaltig zum Positiven zu verändern? Beides eher schwierig, wobei wir die charakterlichen Verbrechen der letzten Jahre mal dem Erwachsenwerden eines kompletten Vollidioten zuschreiben, muss man ihm also nicht übel nehmen. Und musikalisch? Tja, da gibt's zumindest einen ordentlichen Aufwärtstrend, der vor allem dahingehend für steigende Erwartungen sorgt, als dass Justin Bieber durchaus irgendwann dazu in der Lage sein könnte, etwas öfter ordentliche Texte zu präsentieren. Und dann stünde einer guten LP nichts mehr im Wege.