von Kristoffer Leitgeb & Mathias Haden, 19.11.2015
And thus it began... To head towards its inevitable end.
Vorsicht, Mythenbildung! Ein unbequemes Warnschild in der Musikwelt, immerhin haben die Mythen dieser Welt, die postmortalen Nacherzählungen über große Heroen oft so verdammt wenig mit der Realität zu tun. Da kann der Glaube an den ursupertollen Hendrix, Morrison oder Cobain auch näher dran sein an den Beschreibungen des Herkules oder Odysseus als an dem, was anno dazumal wirklich mit ihnen los war. Die Musik kann natürlich bei der Beurteilung aushelfen, so wie bei Joy Division und Ian Curtis, deren zum Manifest gewordenes Schaffen gewisse Zweifel an den Zweifeln über Curtis' angebliche Lebenswelt aufkommen lässt.
Was nämlich mit "Unknown Pleasures" begonnen wurde, ist nicht einfach ein starker musikalischer Auftritt, kein einflussreiches Gastspiel auf der im Schatten liegenden Post-Punk-Bühne. Curtis' Arbeit an diesen beiden Alben bedeutete viel eher eine persönliche Offenbarung, die die vergleichsweise trivialen Stufen ehrlicher Texte oder emotionaler Performances längst hinter sich gelassen hat, stattdessen mit jedem neuen Song zu einem schonungslosen Blick in einen der hoffnungslosesten und düstersten vorstellbaren Charaktere mutierte.
Für die positiven Vibes ist da grundsätzlich keiner zuständig, will man aber in die Nähe dessen, begibt man sich schleunigt auf instrumentale Pfade, bekommt besser einen Tunnelblick für das musikalisch Dargebotene. Das zeigt eine Band, die aus ihren recht kurzen Tagen als Punker bereits alles Nötige gelernt hat, in einer kaum verbesserbaren Harmonie auftritt. Etwas Punk hat man sich noch behalten, davon zeugen vor allem Bernard Sumners kratzige Riffs, die den klanglich rohen Stil der LP am besten einfangen. Abseits davon ist man allerdings Pionier für den Post-Punk, baut, wo es nur geht, auf den tonangebenden Bass, präsentiert ihn unheilvoll schwelend in New Dawn Fades, fragil hoch im Percussion-lastigen She's Lost Control, fast schon sprunghaft dagegen in Opener Disorder. Man wirft damit Blicke in Zukunft und Vergangenheit zugleich, versucht sich in Day Of The Lords erstmals am epochal-traumatischen Stil von "Closer", baut am anderen Ende aber das isoliert wirkende High-Energy-Stück Interzone ein, das sie fast in die 60er zurückwirft. All das beweist einerseits die Vielseitigkeit des Quartetts, die bemerkenswert erscheint, verharrt man doch atmosphärisch fast durchwegs in am Leben zweifelnden Tiefen.
Andererseits sorgt es dafür, dass das Debüt seine Qualitäten nur sporadisch voll ausspielen kann. Denn klanglich noch ein etwas ungeschliffener Diamant und stilistisch noch breit gefächerter, wird "Unknown Pleasures" zum konstant starken Auftritt, aber auch zu einem mit teilweise fragwürdigen Entscheidungen. In den besten Momenten - She's Lost Control, Shadowplay, Wilderness - wird Curtis zum unheimlichen Sprecher, erstattet in monotoner Stärke Bericht über Desillusionierendes und Beängstigendes. Abseits davon bringt man es aber nicht immer fertig, ihm die nötige Plattform dafür zu bieten, sei es durch den zu rohen Klang von Day Of The Lords, die fast freudige Art von Disorder oder die Elektronik-Nutzlosigkeiten von Insight.
Das sind keineswegs schlechte Songs, zum Teil strahlen sie sogar ziemliche Stärke aus. "Unknown Pleasures" kann mit schwachen Minuten nämlich wirklich nicht dienen, dazu ist die Band bereits zu nahe dran, fertig geformt zu sein, weiß auch zu genau, was sie will. Das Debüt der Legenden ist dahingehend durchdacht und bei Zeiten tief emotional, eine rare Kombination, die Fehltritte fast unmöglich macht. Doch es ist noch nicht das um Gravitationspunkt Curtis kreisende Ganze, es ist erst der Anfang. Das verwüstende Ende, das alles verschlingende Schwarze Loch kam erst ein Jahr später...
K-Rating: 8.5 / 10
A new dawn fades... but I remember nothing.
Vorsicht, mäßige Replik! Was soll man aber auch machen, wenn der Kollege als Joy Division-Aficionado in wenigen Sätzen beinahe ausschließlich Wahrheiten verbreitet und auch die richtige Wertung demnach nur minimal verfehlt hat. Bleiben wir vorerst also bei jenen Feststellungen, die mit einem bedenkenlosen Nicken durchgewinkt und zu den Akten gelegt werden können. Die erste, freilich indirekt umschifft und doch lautstark verkündet: Die Mannen um den tragischen Helden Ian Curtis zählen im musikalischen Subuniversum zur Krone der Schöpfung. Right on! Danach wird es zwar straighter, aber nicht mehr ganz so eindeutig. Ja, das Quartett aus der Industriestadt Manchester hat sich - noch unter dem Namen Warsaw - gut bei der anno '76 vorherrschenden Punk-Welle bedient und viele positive Aspekte aus deren rauer Energie abgezapft. Und nein, nimmt man sich etwa Interzone, die zugleich tiefste im Punk verwurzelte und abgeschlagen schwächste Nummer, zur Brust, erkennt man, dass die Jungs schon am Albumdebüt besser daran war, sich lediglich aus Elementen des Genres ihr eigenes Süppchen zu kochen und dem aufkommenden Post-Punk ein Gesicht zu verpassen. Zu geradlinig, zu brachial und mit seinem Kettensägen-artigen Gitarrensound einfach zu trocken.
Damit sind die Schwächen von Unknown Pleasures eigentlich schon fast abgehakt. Wo seine Stärken liegen, hat Herr K (Kafka lässt grüßen) auf mustergültige Art und Weise offengelegt - und auch die Highlights schön rausgepickt. She's Lost Control mit seinem wirkungsvollen Bassspiel und dem simplen, aber ebenso effektiven Gitarrenriff ist selbstverständlich großartig und das quälende Shadowplay mit seinem mächtigen Aufbau sogar noch eine Spur besser - den Höhepunkt findet man allerdings im unheilvollen Wilderness, welches mit seiner treibenden Rhythmusabteilung direkt in eine gräuliche Paranoia drängt. Die Texte spielen da schon lange keine übergeordnete Rolle mehr, zumindest der tiefere Sinn hinter ihnen nicht, denn wirken die Worte auch schon hier am Debüt sehr behutsam gewählt, kryptisch und in erster Instanz ungemein aufwühlend.
Mit dieser kleinen Analyse und der Erkenntnis, dass Insight mit seinen Star Wars-artigen Elektronik-Querelen zu den schwächeren, New Dawn Fades mit seiner absorbierenden Atmosphäre zu den besseren Cuts auf Unknown Pleasures gehören, schwimmen wir ja wie so oft auf einer Wellenlänge - wäre da nicht die fast schon gleichgültige Haltung gegenüber dem grandiosen Opener Disorder. Während man hier mit seiner tatsächlich positiveren Stimmung nur langsam auf den trüben Tenor der LP vorbereitet wird, glänzt das Zusammenspiel von Sumners röhrender Gitarre und Hooks lebhaftem Bass, daneben spielt Morris einen erfrischend minimalistischen Drumbeat und Curtis ist einfach Curtis und damit ohnehin genialisch genug.
Viel gibt es insgesamt aber nicht zu meckern, über die Worte des Vorsprechers und über sein faires Verdikt, bezüglich der Band, ihrem einzigartigen Sound und einer LP, die lediglich zum Vorboten einer düsteren Realität werden sollte. Auch deshalb verabschiede ich mich an dieser Stelle und schließe mein Plädoyer mit einer bereits vernommenen Konstatierung: Das verwüstende Ende, das alles verschlingende Schwarze Loch kam erst ein Jahr später...
M-Rating: 9 / 10