von Kristoffer Leitgeb, 25.10.2020
Fünf denkwürdige Singles und zwölf andere Songs, die alle Facetten der Band, aber nicht ihre Großartigkeit einfangen.
Compilations sind eine schwierige Sache. Als reine Greatest-Hits-Zusammenstellungen sind sie aus der Sicht des Bandkenners unnötig und doch mitunter der kommerzielle und womöglich sogar künstlerische Höhepunkt - "ABBA Gold" ist rechtmäßig fast unbestritten, Bob Marleys "Legend" zwar definitiv eher streitbar, aber dennoch der posthume Glanzpunkt seines Schaffens. Als Ansammlung von B-Sides, Kuriositäten, Live-Aufnahmen und Outtakes sind sie Sammlergut und versprühen doch im gleichen Maß den Duft kommerzieller Ausschlachtung, diesmal eben durch Material, das meist zu Recht keine andere Verwendung gefunden hat. Aber es gibt sie nun einmal in so ziemlich jeder Diskographie zur Genüge, also muss man sich damit arrangieren. Hin und wieder bekommt man dann ja auch eine Compilation, die für die vielen Exemplare, die als reine Geldvermehrungsinstrumente erscheinen, entschädigt, indem tatsächlich wertvolle Minuten ausgegraben und zusammengestellt werden oder so manches erstmals gemeinsam auf einer LP erscheint. "Substance" ist eigentlich genau ein solches Exemplar, versammelt nicht nur legendäre Singles, die die Band aus Prinzip nur abseits ihrer Alben veröffentlicht hat, sondern auch Raritäten, die die kurze Bandgeschichte musikalisch nachzeichnen. Und doch wird selbst in diesem und damit einem der günstigsten Fälle deutlich, welche Schwächen auch im Idealfall mit einer solchen Songsammlung einhergehen.
Im Falle der britischen Goth-Rock-Helden, die in der kurzen Zeit ihres Bestehens gerade einmal vier Singles, insgesamt nur drei gemeinsame Jahre und zwei LPs geschafft haben, kommt aber prinzipiell auch etwas dazu, das viele andere Interpreten nicht belastet, wenn es um Compilations geht. Unvergessliche Singles hin oder her waren Joy Division nämlich eindeutig eine Band, deren größte Stärken sich erst dann offenbart haben, wenn man in die von Martin Hannett so penibel orchestrierten und atmosphärisch unfassbar dichten Alben hineingezogen wurde. Erst da offenbaren sich die textlichen Abgründe, die emotionale Tiefe und die allumfassende Düsternis, die Frontmann Ian Curtis und seine Darbietungen umgeben hat, erst so wirklich. Das ist einerseits, wie angeführt, Hannetts Arbeit zu verdanken, andererseits aber auch einfach der Tatsache, dass "Unknown Pleasures", insbesondere aber "Closer" diese atmosphärischen Momente aufeinandergeschichtet haben, sodass man ihnen immer weniger und weniger entkommen ist. So lässt sich mit hoher Sicherheit sagen, dass die immense Wirkung des finalen Albummoments in der Karriere von Joy Division, Decades, zu einem Gutteil auch darin begründet liegt, dass davor bereits acht Songs lang dieser Abschluss vorbereitet und atmosphärisch eingeläutet wird.
Weil nun "Substance" ein Gemenge von Songs unterschiedlichsten Ursprungs ist, geht sich etwas in dieser Art naturgemäß nicht aus. Der Ersatz dafür ist ein Streifzug durch die gesamte Schaffenszeit der Band und ihre musikalische Entwicklung, beginnend bei den punkigen und doch düster-tristen Anfängen als Warsaw über den kargen, sphärischen Rock aus der "Unknown Pleasures"-Ära bis hin zum elektronisch geprägteren Stil der finalen Monate im Jahr 1980.
Prinzipiell kann man musikalisch mit allem davon etwas anfangen, auch mit den spartanisch anmutenden Anfängen, die 1978 in Form der EP "An Ideal Of Living" den später abhandengekommenen energiegeladenen Punk der Band repräsentieren durften. Kern dieser Compilation sind aber natürlich ohne jeden Zweifel die vier bzw. fünf Singles, die Joy Division Zeit ihres Bestehens und kurz nach dem Tod von Ian Curtis veröffentlicht haben. Transmission, Love Will Tear Us Apart, Komakino sowie das nach der Auflösung der Band in den USA und im UK in unterschiedlicher Reihung veröffentlichte Songpaar Atmosphere und She's Lost Control vereinen auf sich bereits alles, was es braucht, um die Band und ihre verschiedenen Facetten ausreichend kennenzulernen. Das manische, von Peter Hooks pausenlos galoppierendem Bass angetriebene Transmission und seine fast zynische Ausgelassenheit lässt noch am ehesten Spuren der punkigen Wurzeln der Band erkennen. Komakino ist mit seinen trockenen Drums, den kargen Zupfern an der Gitarre und dem Bass und den vereinzelten, kratzigen Riffs von Bernard Sumner eines der atmosphärisch unwirtlichsten Stücke der Bandgeschichte. Love Will Tear Us Apart wiederum ist das genaue Gegenteil, der deutlichste Schritt in Richtung Synth-Pop und als solcher ein melodisch unwiderstehlicher Song, der dank Curtis und seines Texts zu einem der gefühlvollsten Momente der Band geworden ist. Atmosphere wiederum ist die Vermählung der tristen Düsternis von Komakino und des synthetisierten Sounds von Love Will Tear Us Apart, nimmt als solches die Ende der 80er von The Cure auf "Disintegration" zelebrierten synthlastigen Darkwave-Klänge vorweg. Und She's Lost Control ist hier in einer Version vorzufinden, die zwar nicht an jene auf "Unknown Pleasures" herankommt und die drückenden Riffs durch abgehackte, metallische Synths ersetzt, damit aber eine nicht weniger klaustrophobe, beklemmende Soundkulisse kreiert.
Mehr braucht man, um ganz ehrlich zu sein, nicht wirklich. Aber man bekommt es trotzdem. Die aus diesen vielleicht etwas zu Unrecht als Restmaterial abgekanzelten übrigen Songs zu ziehenden Schlüsse sind vielfältig. Zum einen kann man sicher sagen, dass auch in den chaotisch und stilistisch in der Rückschau fehlgeleitet anmutenden Anfangstagen Potenzial spürbar war. Zwar sind Warsaw und Failures eher rhythmisch starker, von Peter Hook ordentlich getragener Lärm als sonst etwas und No Love Lost eine noch ziemlich raue, eindimensionale Annäherung an die späteren atmosphärischen Klänge, aber passables Material ist es dennoch. Und immerhin gibt es das wirklich starke Leaders Of Men, das zwar Curtis' unfertiger Stimme nicht den nötigen Platz lässt, dafür aber eine erste textliche Perle ist, die gleichzeitig mit Sumners stärkstem Riff dieser frühen Tage aufwarten kann. Wie schnell die Weiterentwicklung von diesem spartanischen Anfang weg passiert ist, illustriert aber schon Digital, das noch 1978 auf einem Sampler des Labels Factory Platz gefunden hat. Trotz spürbar fehlender klanglicher Nuancen, die bald Martin Hannett mitbringen sollte, ist die Nähe zu den später auf "Unknown Pleasures" zu findenden Songs bereits überdeutlich und man hat mit dem dumpfen, harten Beat, dem melodischen Bass und den kargen Gitarrenzupfern einen gelungenen Unterboden für Curtis' in bekannter Form tiefe, kühle und harte Gesangsperformance.
Die übrige, über die Tracklist verstreute Ansammlung von B-Sides hinterlässt keine solchen bleibenden Eindrücke, sondern erscheint eher als eine Reihe solider, aber berechtigterweise in der zweiten Reihe verbliebener Songs. Große atmosphärische und emotionale Wirkung oder sonderlich herausragende Klänge sind weder von These Days noch von Dead Souls oder dem Instrumental Incubation zu erwarten, auch wenn alle davon dank Hannetts penibler Arbeit und der unzerstörbaren Qualitäten der Band ihren kleinen Beitrag dazu leisten, dass "Substance" musikalisch ein bisschen einheitlicher klingt und im positiven Sinne Anknüpfungspunkte an die beiden Studioalben der Briten bestehen. Der einzige wirklich deutliche Schwachpunkt ist insofern das 1979 auf der "Eastcom 2" EP erschienene Autosuggestion, das über sechs Minuten daran scheitert, mit seinem klanglichen Minimalismus und den sphärisch im Hintergrund verhallenden Riffs etwas aufzubauen, das atmosphärisch auch nur im Entferntesten an das heranreicht, was auf "Unknown Pleasures" oder "Closer" zu finden ist. Heraus kommt dabei in diesem Fall nur Langeweile.
Dieser Makel lässt sich ganz gut verschmerzen in Anbetracht dessen, dass dem auf "Substance" immerhin alle Singles der Bandgeschichte gegenüberstehen. Deren außergewöhnliche Qualität ist es auch, die diese Compilation letztlich zu etwas machen, das sich jedenfalls lohnt. Dass sie nur ein knappes Drittel der Tracklist ausmachen, ist schade, weil die übrigen Songs definitiv nicht in dieser Liga spielen. Gleichzeitig bekommt man aber einen Rundumblick auf das musikalische Geschehen abseits der zwei gefeierten Alben, die Joy Division abliefern konnten. Das ist schon einmal prinzipiell eine nette Sache für alle Komplettisten und Freunde der weniger bekannten Seiten einer Band. Hier offenbart das die spröden, lauten Anfänge und den raschen Wandel hin zu den Meistern unendlicher atmosphärischer Kraft. Davon spürt man zwar abseits der Singles hier weniger, das verhindert aber wiederum nicht, dass man es nicht dennoch mit durchwegs soliden bis starken Songs als Ergänzung der bekanntesten Meilensteine von Joy Division zu tun hat. Insofern erfüllt "Substance" so ziemlich alle Aufgaben, die eine Compilation so zu erfüllen hat. Durchgehender klanglicher Genuss, geschweige denn etwas, das sich emotional in ähnlichen Sphären abspielt wie "Closer", ist es deswegen aber dennoch nicht.