von Kristoffer Leitgeb, 18.06.2019
Gemütliche Durchschnittlichkeit zwischen Silbermond, Ideal und verkümmerten eigenen Stärken.
Eines der gängigsten bemühten Prinzipien der Politik oder zumindest der repräsentativen Demokratie ist das des geringsten Übels. Man wählt, was am wenigsten schlimm ist, weil es auch ganz anders kommen könnte. Vielen missfällt das, der Idealist und Prinzipientreue bekommt davon Magengeschwüre und sucht nach dem heiligen Gral der Wahl, der perfekten Repräsentation der eigenen Ansichten. Man könnte auch nach dem wirklichen heiligen Gral suchen und hätte ähnliche Erfolgschancen, weswegen es in diesem Fall definitiv eines braucht, das Absurdum des pragmatischen Idealisten, der weiß, wann es zumindest einen Funken Kompromissbereitschaft braucht und wann man dann doch nicht nachgeben darf. Ein schwieriges Unterfangen, dem man in der Musik netterweise entgeht, weil aufgrund der Menge und Vielfalt des Angebots jeder etwas finden kann, das genau für ihn passt. Trotzdem kann man nach dem geringsten Übel suchen, wo es einfach nicht nicht übel geht. Der deutschsprachige Pop(-Rock) ist in mancher Hinsicht so ein Eck, kennt er doch einen Dauerzustand der Jenseitigkeit, an dem Modern Talking, Pur, Silbermond, Ich + Ich oder Tokio Hotel beteiligt sind. Solch eine Auswahl verlangt nach der Bereitschaft, sich mit relativ wenig zufrieden zu geben. Die zeitweise Treffsicherheit von Wir Sind Helden ist da fast schon zu viel des Guten und anmaßend, man sollte sich auch mit der veritablen Mäßigkeit von Jennifer Rostock begnügen können.
Wer in all dem einen Hauch von herablassender Präpotenz herauszulesen glaubt, der liegt richtig. Das ist mein Geschäft. Tatsächlich ist nichts davon so gedacht, dass es die Band um Jennifer Weist als hoffnungslosen Fall oder unfähig dastehen lässt. Im Gegenteil muss man sich immer vor Augen halten, dass die Berliner schon öfter ihr Potenzial bewiesen haben, wenn auch nicht einmal mit ihrem ordentlichen Debüt auf Albumlänge ausgedehnt. Doch nach "Ins Offene Messer" ist es erst recht bergab gegangen und die Musik klang meistens nach einer Mischung aus künstlerischer Selbstfindung und zwanghafter Diversifizierung. Am Anfang stand ein bisschen Punk. Kein richtiger natürlich, sondern einer, der eher nach Pop-Rock geklungen hat, noch dazu mit NDW-Elektronik verstärkt und von pathetischen Balladen durchzogen war. Aber er war da und hat dafür gesorgt, dass relativ schnell das gefunden war, was die Band sehr hörenswert gemacht hat: Ordentlicher Drive, verschrobene Wortspiele, die oft genug an der Schmerzgrenze des Geschmacks geschrammt sind, gleichzeitig aber Coolness, Wurschtigkeit und Kreativität verkörpert haben, dazu noch Weists energiegeladene, halb geschriene Performances. Das hat gereicht.
"Schlaflos" verführt einen nun zu dem Glauben, daran könnte angeschlossen werden, nachdem zwischenzeitlich Elektro-Pop und damit oft genug peinlicher Kitsch die Herrschaft übernommen hatten. Zeitspiel ist laut, ist aggressiv, ist geradlinig in bester Form. Dass man nicht so ganz weiß, was Weist eigentlich hinausschreien will mit ihren verworrenen Zeilen, ist dank des starken Riffs und des hohen Tempos auch verdammt egal. Man ist einfach zufrieden damit, das man den Begriff Punk wieder am fernen Horizont erkennen kann. Allerdings wird man getäuscht. Verzichtet man darauf, sich auf den Hochgeschwindigkeits-Elektronik-Rock von K.B.A.G. und den damit verbundenen, mäßig glaubwürdigen Anti-Mainstream-Sermon zu versteifen, ist von dieser Angriffigkeit herzlich wenig zu spüren. Immerhin, die Single mit den Initialen als Titel erinnert mitten in der Tracklist noch einmal an den Anfang, holt Kollegen von Feine Sahne Fischfilet, Madsen und Grossstadtgeflüster dazu, gibt sich dazu auch textlich erfrischend aufmüpfig und sarkastisch:
"Wir brauchen eine Hook, die irgendwen berührt
Und wir brauchen einen Text, den jeder gleich kapiert
Und wir brauchen einen Sound, der im Radio funktioniert
Und dazu eine Fanbase, die kräftig konsumiert
Wir brauchen eine Corporate Identity
Einen Look um die Boxen an der Tournee
Wir brauchen einen Hit, der die Miete finanziert
Und wo kriegen wir ein Feature her, das keinen intressiert?"
Was man sonst bekommt, ist aber nicht unbedingt schlecht, nur weil es ausgerechnet nach Mietenfinanzierung riecht. Eigentlich ist es auch gemein, es so zu beschreiben. Aber handzahmer Pop-Rock begegnet einem trotz durchaus lauter Darbietung von Weist eigentlich an allen Ecken. Überraschend ist daran nur, wie gut die Band damit umzugehen weiß. Denn sie schafft es durchgehend, die drohenden Assoziationen mit Silbermond zu umgehen oder zumindest weit genug abzuschwächen. Natürlich sind es polierte und hemmungslos melodische Riffs, oft in mäßig atmosphärischer, luftiger Variante, natürlich kann auch kein Mensch den triefenden Schmalz in manchem Song wegdiskutieren. Hollywood, Echolot oder Tauben Aus Porzellan sind gefühlsduseliger Kitsch, versteift man sich auf die schwülstigen Metaphern, die in jeder zweiten Zeile bemüht werden. Ironischerweise sind es allerdings auch mit die besten Songs des Albums, weil es der Band gelingt, ihre Songs dann doch nicht weichgespült und zu formelhaft wirken zu lassen. Das liegt auch an der oft ausgefallenen Wortwahl, allerdings lebt die Durchhaltehymne Hollywood nicht nur von skurrilen Zeilen wie "Und wo die Stadt die tiefsten Falten wirft / Dort fühlst du dich Zuhaus' / Home ist, wo es hart ist", sondern auch von der Dynamik, die dem Ganzen musikalisch innewohnt. Da ist wieder ein innerer Antrieb in dieser Musik, der den zwei vorangegangenen Alben gefehlt hat, der auch Weist wieder in verhältnismäßig natürlicher Rolle platziert. Klarerweise versucht sich die immer noch an ruhiger Emotionalität, ohne das die meiste Zeit wirklich verkörpern oder vermitteln zu können, doch der Wunsch nach gesanglicher Melodik kann wie im Fall des eingängigen Tauben Aus Porzellan auch durchaus gut kommen. Wahrscheinlich werden manche gequält dreinschauen, wenn die obskure Lyrik auf das allzu herkömmliche Auseinanderleben von Mann und Frau als Thema in Echolot trifft. Allein, die Rechnung geht trotz fehlender inhaltlicher Spezialität auf.
Das ist auch und vor allem deswegen so, weil die exzentrischeren oder eigenwilligeren Momente der Band oft sehr schwere Kost waren und hier netterweise seltener zu hören sind. Dass einer davon in Form des miserablen Ein Kopf Und Eine Kehle ausgerechnet Leadsingle werden musste, ist schwer zu erklären. Der Mangel eines Höhepunkts im Song, die gleichzeitige Endloswiederholung des Titels im Refrain und der gepresste Pseudo-Rap Weists sind Zutaten, die einfach nichts gelingen lassen. Das gilt auch für einen musikalisch schwachbrüstigen, teilakustischen Beitrag wie Wenn Der Wodka Zweimal Klingelt oder das dank geschliffenen Klavierakkorden und Soft-Rock-Untermalung tatsächlich in Silbermond-Sphären abdriftende Bis Hier Und Nicht Weiter. Sowas darf nicht passieren oder sollte zumindest nicht vorkommen, will man sich vom Abgrund des Deutsch-Pop fernhalten oder gar glaubhaft eine Hymne gegen die Massentauglichkeit als Single präsentieren. Umso weniger, wenn der abschließende Titeltrack beweist, dass aus der Band zwar sicherlich keine großartige, aber immerhin eine passable, atmosphärische Ballade herauszuholen ist, die nicht nach größtem Kitsch stinkt.
Immerhin werden die Schwächen aber dezimiert, vergleicht man "Schlaflos" mit den Vorgängern. Ein Triumph ist die vierte LP von Jennifer Rostock deswegen noch lange nicht, aber die Band klingt immerhin die meiste Zeit sehr ordentlich, gibt sich keinen übermäßig elektronischen Peinlichkeiten mehr hin und findet zeitweise wieder den ersehnten Punch. Großteils muss man sich mit Songs der Marke "gut, aber nicht großartig" zufrieden geben, auch weil manches wie In Den Sturm rhythmisch und textlich zu deutlich an frühere Tracks erinnert. Aber man könnte das hier Dargebotene so deuten, dass der Fünferpack seine Identität wieder gefunden hat, auch wenn sie sehr deutlich anders klingt als zu Zeiten des ersten Albums. Diese freche Angriffigkeit von damals ist fast komplett weg, dafür steht eine mal erwachsene, mal kindisch-schmalzige Emotionalität im Vordergrund, die netterweise nicht in einer Balladenarmada mündet, sondern oft genug in durchaus dynamischen Pop-Rock verwandelt wird. Das reicht nicht für Jubelstürme, aber man ist ja in diesem Metier gern einmal mit weniger zufrieden.